Nach Jahren des Home-Office setzen deutsche Unternehmen wieder verstärkt auf Präsenzpflichten – und stoßen auf Widerstand. Denn unter dem Deckmantel von Anwesenheitsregeln kehren vielerorts auch lange Arbeitstage und Berufsreisen zurück.
Es ist ein umstrittenes, aber deutliches Comeback: Nach jahrelangen Auswirkungen corona-bedingter Isolation gehören Home-Office-Regelungen größtenteils wieder der Vergangenheit an. Während nach Daten des Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation im Jahr 2023 noch 31 Prozent der ArbeitnehmerInnen ihre Tätigkeit mehrheitlich in Form mobiler Arbeit ausüben, füllen sich füllen sich derzeit Züge, Kantinen und Großraumbüros – 67 Prozent der ArbeitnehmerInnen verbringen 2024 den überwiegenden Teil ihrer Arbeitszeit wieder in Unternehmensräumlichkeiten. Ein Trend, von dem nicht alle Beschäftigten profitieren – denn Anwesenheitspflichten bedeuten für viele Berufstätige auch Pendelzeiten, lange Arbeitstage und Reisetätigkeit.
Home-Office Adé: Warum die Rückkehr ins Büro für Konflikte sorgt
In der Unternehmensberatung zeichnen sich die Grabenkämpfe rund um das Thema Remote-Work besonders deutlich ab. Die Branche lockt Berufseinsteiger mit nach wie vor hohen Gehältern und schnellen Aufstiegschancen. Im Gegenzug wird ambitionierten Absolventen jedoch einiges abverlangt – insbesondere: Reisebereitschaft. Denn das Geschäft lebt von Projektaufträgen, die nationale und internationale Unternehmen vergeben, um Problemstellungen innerhalb einer vorgegebenen Frist lösen zu können.
In der Regel ist hierbei eine Präsenz vor Ort beim Kundenunternehmen erforderlich – und wird rigoros eingefordert. Heute München, nächste Woche Hamburg, dann Belgien und wieder München: Was nach Abenteuer klingt, wird auf Dauer für viele Berater zur Belastungsprobe. Denn die Zeit vor Ort ist knapp bemessen, neben Kundenterminen und Projektarbeit bleibt kaum Zeit für Erholung oder Aktivitäten. Das Beraterleben spielt sich nicht entlang von Sehenswürdigkeiten ab, sondern zwischen Bahnhöfen, Flughäfen, Hotels, Taxen und Meetingräumen. Die eigene Wohnung wird nur am Wochenende genutzt, Zeit mit der Familie und Freunden ist knapp bemessen.
Balanceakt zwischen Aufstiegschancen und Dauerstress
„Die eigenen Bedürfnisse über die Bedürfnisse des Kunden zu stellen, ist in der Beratung undenkbar“, schildert Jan1. Er ist Senior Associate in einer renommierten Unternehmensberatung, möchte aber namentlich nicht genannt werden. „Daran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert – Home-Office ist bei uns in dem Moment wieder verschwunden, in dem die gesetzlichen Regelungen aufgehoben wurden“.
Zahlen zu Präsenzzeiten in der Beratungsbranche sind schwer zu identifizieren – nach Jan unter anderem deshalb, weil über Belastungen wenig gesprochen wird. „Es herrscht die Erwartungshaltung, dass Einsteiger*Innen wissen sollten, worauf sie sich einlassen. Die Nachteile der Tätigkeit werden auch mit dem hohen Gehalt gerechtfertigt – dabei verdiene ich, auf die Stunde gerechnet, eher durchschnittlich. Das höhere Gehalt ergibt sich durch die lange Arbeitszeit“. Auch Jan ist von intensiver Reisetätigkeit betroffen, in Spitzenphasen arbeitet er bis zu 70 Wochenstunden. Wie kann unter solchen Bedingungen die psychische Gesundheit aufrechterhalten werden? Und können Home-Office-Regelungen Abhilfe schaffen?
Die Frage der Selbstbestimmung
„Wie sich lange Arbeitszeiten und Reisetätigkeit auf die Psyche auswirken, kommt darauf an, wie bedürfniskonform das Ganze ist“, erklärt Birte Wienen. Sie ist psychologische Psychotherapeutin und begleitet in ihrer Gemeinschaftspraxis seit vielen Jahren Berufstätige bei der Bewältigung psychischer Belastungen. „Herausfordernd ist sicherlich, unter diesen Bedingungen stabile Bindungen aufrechtzuerhalten, den Körper fit zu halten und in stürmischen Zeiten die Orientierung zu bewahren.
Schlafmangel, geringere Fitness, weniger erfüllende Kontakte – all das kann sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken. Menschen, die ihren Selbstwert überwiegend über viel und harte Arbeit definieren, haben zudem eher das Risiko, auszubrennen“. Dennoch wirkten sich Belastungen durch die Arbeitstätigkeit nicht in allen Fällen negativ aus: „Für Menschen, die in Bezug auf den Selbstwert und Bindungen stabil sind, kann das ,ständig Neue‘ zusätzlich positive Impulse geben und dadurch bereichernd wirken“.
Ob Arbeitsbedingungen als belastend oder bereichernd empfunden werden, hängt also auch von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen ab. Ein ähnlicher Effekt könnte sich in Bezug auf potenzielle Entlastungen durch Home-Office-Regelungen ergeben: „Insbesondere, wenn diese selbstbestimmt verwaltet werden, kann ich mir positive Effekte vorstellen – mehr Kontrolle, mehr Möglichkeiten, sich außerhalb der Arbeit zu stabilisieren, mehr Zeit und Muße für Selbstfürsorge“, schildert Wienen. „Für Menschen, die ihrer Tätigkeit sehr hohen Wert beimessen, fallen dann allerdings ,Tankstellen‘ weg – das könnte bedeuten: weniger Kontakte, weniger Struktur und Anerkennung oder auch weniger Spaß“.
Schöne neue Arbeitswelt: Ein Blick in die Zukunft
Aus Sicht der Beschäftigten ist also eine selbstbestimmte Wahl zwischen Home-Office-Möglichkeiten und Präsenzarbeit wünschenswert, um Arbeitsbedingungen mit psychischen Bedürfnissen besser in Einklang bringen zu können. Um die Arbeitgeberattraktivität am Stellenmarkt zu erhalten, werden Unternehmen auch in Zeiten rückläufiger Home-Office-Zeiten ein Mindestmaß an Flexibilität integrieren müssen – ob Home-Office-Regelungen jedoch in die kontaktintensive Beratungsbranche zurückkehren, bleibt abzuwarten. Jan wünscht es sich: „Hotels sind für mich nach Jahren in der Beratung die einsamsten Orte“.
Schreibe einen Kommentar