Ein bis zwei von 100 Menschen erkranken laut neusten Statistiken während ihres Lebens an Bulimie. Vor Jahren habe ich ähnliche Zahlen bereits in einer Dokumentation über Essstörungen in Kliniken gehört und nicht verstanden, wieso junge Frauen weinend über ihrem Essen sitzen und jeden Bissen herunterwürgen, als wäre er purer Schimmel. Gleichzeitig haben sie mir unfassbar Leid getan. Tja, jetzt bin ich eine von Ihnen. Doch das will ich nicht bleiben. Also kämpfe ich dagegen an.

7 Tage später und 700 Gramm schwerer darf ich tatsächlich alleine essen. Keine Essensbetreuung in Form einer Ernährungstherapeutin sitzt mehr mit mir an einem Tisch und kontrolliert, dass ausnahmelos jeder Krümel in meinem Bauch landet. Mittlerweile hatte ich mich schon fast daran gewähnt, mein Butterpapier vorzeigen zu müssen, um zu beweisen, dass kein ach so kleiner Rest in der Packung hängen geblieben ist.
Nicht gewöhnt habe ich mich wiederum an das Völlegefühl nach jeder Mahlzeit. In der Klinik muss ich an einem Tag so viel essen, wie ich in den letzten Jahren an drei Tagen zu mir genommen habe. Um die vorgegebenen 100 Gramm am Tag zuzunehmen, reicht dieses gefühlte Mastprogramm nicht einmal. Ich helfe mit süßen Getränken nach, sodass ich nicht noch mehr essen muss. Die beste Art ist das mit Sicherheit nicht, aber ich habe das Gefühl, dass auch nur ein Bissen mehr mich komplett zusammenbrechen lassen würde. Besonders schlimm ist das Mittagessen. Zum Glück habe ich danach meistens ein, zwei Stunden frei und kann mich unter meiner Bettdecke verkriechen. Für etwas anderes bin ich in diesem Zustand nicht zu gebrauchen. Meine kompletten Gedanken kreisen nur um diesen Teller voll Essen, der sich irgendwo in meinem Bauch befindet und dort auch bleiben muss. Keine Ahnung, wie ich dieses Essverhalten im Alltag durchziehen soll, wenn ich es mir zeitlich nicht leisten kann, mich danach stundenlang abzuschotten und in meine Decke zu kuscheln.
So krank bin ich doch gar nicht
In solchen Momenten merke ich, dass mein Essverhalten problematischer ist als gedacht. Bis jetzt konnte ich mir eingestehen, dass ich an psychischen Folgen und Einschränkungen leide und diese bekämpft werden müssen. Mein Essverhalten habe ich mir wiederum immer gut geredet. Hier merke ich allerdings, dass ich mich nur selber angelogen habe. Nicht selten rufe ich Freunde an und beschwere mich über die viel zu große Portion, die ich essen musste. Vom verhassten Nachtisch ganz abgesehen. Jedes Mal wird mir mehr oder weniger schonend beigebracht, dass das Beschriebene eine normale Menge sei. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich spinne oder die anderen. Wer kann bitte so viel essen? Deprimierende Antwort: ich. Zumindest sollte ich das. Wie ich allerdings an den Punkt kommen soll, dahinzukommen? Keine Ahnung. Gerade wird mir beim Gedankengang schon schlecht, dass ich abends noch einmal essen muss.
Nichtsdestotrotz bin ich undankbar froh, nicht mehr am kontrollierten Tisch sitzen zu müssen. Die Regel hierfür ist ganz einfach: Jeder neue Patient muss eine Woche kontrolliert essen. Danach darf er alleine an einem ihm fest zugewiesenen Platz essen, sofern 700 Gramm pro Woche bis zu einem gesunden BMI zugenommen werden und es keine Anzeichen für bulimische Attacken gibt. Ich habe das Gefühl, an dem Tisch erst zu lernen, wie man Ekel vor Essen empfindet und möchte daher auf keinen Fall zurück. Mir gegenüber saß die Woche über eine junge Frau, die ihren Belag für das Brot mit einem Lineal abmaß, sodass bloß kein Stück Käse oder Wurst überlappen kann. Eine andere saß immer mit Blatt und Papier am Tisch und notierte für jeden Bissen einen Strich. Während ich mein Essen möglichst schnell runterwürgte, aßen andere jeden Bissen so langsam es nur geht. Einige verschwanden danach direkt auf ihre Zimmer. Ich frage mich, ob sie ihr Essen wohl behalten. Um ehrlich zu sein, bezweifle ich es. Verdenken kann ich es ihnen nicht wirklich, auch wenn ich weiß, dass dieses Denken von der Krankheit und nicht wirklich von mir kommt. Genau solche Situationen verleiten mich wieder zu dem Trugschluss, relativ gesund zu sein. Zusammengerollte Momente im Bett zeigen mir dann wieder, wie falsch ich liege.
Eine Runde Gruppenjammern
Meine Tage sind relativ voll. Einzeltherapie, Gruppentherapie, Ergotherapie, Motologie, Bewegungstherapie, Boxen, Pilates, Yoga, Lehrküche und viele andere Bausteine nehmen einen Großteil meiner Zeit ein. Die Ergotherapie besuche ich genau einmal. Ich verstehe beim besten Willen nicht, wieso es mir helfen soll, etwas zu basteln. Davon nehme ich weder zu, noch ändert sich mein Denken. Andere Patienten wiederum sind begeistert. Wahrscheinlich gehöre ich einfach nicht zur kreativen Sorte Mensch.
Meine erste Gruppentherapie fühlt sich wie eine Episode der Sendung „Wer jammert am besten über sein Leben“ an. In der Eröffnungsrunde, in der jeder berichten soll, wie es ihm geht, höre ich so gut wie durchgehend nur, wie schrecklich alles ist und wie schwer einem das Essen und das Leben allgemein fällt. Ich sitze ordentlich geschminkt in Jeans und Bluse zwischen vielen Jogginghosen und höre mir deren Leid an. Noch weiß ich nicht, dass es mir bald nicht anders gehen wird und ich mich gerade innerlich eher weigere, auf die Therapie einzulassen. Im Rückblick habe ich in dieser Therapiestunde wahrscheinlich gewirkt, wie bei einem Bewerbungsgespräch. Kontrolliert, diszipliniert und professionell. Kein Wunder, dass ich von emotionalen Ausbrüchen und sentimentalen Phrasen überfordert war. Irgendwie war ich in diesem Moment noch nicht bereit dazu.
Seelen-Striptease und Gefühlsausbrüche
Bereits in der zweiten Gruppensitzung wird sich dieser Zustand ändern. Auch dieses Mal sehe ich wie aus dem Ei gepellt aus und habe irgendwie noch nicht verstanden, dass genau dieser ständige Perfektionismus Teil meines Problems ist. In jeder Gruppensitzung wird ein spezifisches Problem einer Patientin mit allen besprochen. Dass ich schon in der ersten Woche an der Reihe bin, hätte ich nicht gedacht. Wie immer stelle ich das Problem sarkastisch und mit ein paar Witzen da. Ich möchte nicht, dass die anderen merken, wie schlimm das Ganze wirklich für mich ist. Seelen-Striptease betreibe ich ungerne vor fast Fremden. Leider oder zum Glück ist unsere Gruppentherapeutin wirklich gut in ihrem Beruf und schafft es, mit ein paar gezielten Fragen mich aus der Reserve zu locken. Meine perfekt zusammengebaute Fassade bekommt bereits nach ein paar Tagen erste Risse und zu meiner Überraschung ist es völlig in Ordnung. Die Patientin neben mir reicht mir ein Taschentuch und sagt mir, dass sie dieses Gefühl kennt. Zum ersten Mal seit meiner Anreise finde ich den Gedanken, vielleicht doch nicht abzubrechen, erträglich.
Ein Gedankengang, den ich seit Tag eins nicht aus meinem Kopf vertreiben kann. Die zwei Frauen mit denen ich angereist bin, haben mittlerweile bereits wieder ihre Sachen gepackt und sind schon wieder zu Hause. Ich kämpfe noch jeden Tag mit dem inneren Schweinehund. Vor meinem Aufenthalt konnte ich nicht verstehen, wieso Patienten ihre Zeit in einer Klinik abbrechen. Nach gut einer Woche in einer würde ich jedem eine Ansage machen, der eine Person dafür verurteilt, diese Zeit nicht durchgezogen zu haben. Ich schäme mich schon fast dafür, früher nicht besser gewesen zu sein. Jetzt weiß ich, wie viel Kraft ein solcher Aufenthalt kostet. Während er für Außenstehende nur „nicht so anstellen“ und „aufessen“ bedeutet, ist er für Patienten ein ständiger Kampf mit der Krankheit, die einem davon überzeugen möchte, nicht hier zu bleiben.
Zudem ist eine Therapie unfassbar anstrengend. Während ich normalerweise seit Jahren jede Nacht Stunden brauche, um einzuschlafen und jede Nacht von Albträumen geplagt mehrfach aufwache, schlafe ich hier wie ein Baby und wache erst mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Zusätzlich halte ich keinen Tag ohne Mittagsschlaf aus. Zum Glück weiß ich von meinen Mitpatientinnen, dass es ihnen nicht anders geht. Ansonsten würde ich mir glaube ich wirklich Gedanken machen, dass ich mich hier zu Dornröschen entwickle. Es ist unfassbar, wie anstrengend das ständige Auseinandersetzen mit Problemen ist, die man normalerweise verdrängt und sich bloß nicht mit ihnen beschäftigt.
Wie viel hast du denn zugenommen?
Besonders anstrengend ist auch der Druck von außen. Wenn mich noch eine Person fragt, wie viel ich mittlerweile zugenommen habe oder was ich denn nun wiege, springe ich höchstpersönlich in den Hörer und erzähle ihr mal ein paar Takte. Auf der anderen Seite kann ich es auch keinem übel nehmen. Wahrscheinlich würde ich genauso reagieren. Natürlich würde ich wissen wollen, wie viel Person X zugenommen hat, um daraus ableiten zu können, ob die Therapie anschlägt. Als Patient kann ich allerdings aus eigener Erfahrung, gepaart mit den Aussagen der anderen sagen, dass diese Frage genauso viel hilft wie das berühmte „iss doch einfach mehr“. Viele von uns wissen auch tatsächlich nicht, wie viel sie zugenommen haben und was sie wiegen. Selbstverständlich müssen wir uns irgendwann mit der Zahl konfrontieren, gerade ist es allerdings schon anstrengend genug, dass Essen nicht in breiiger Form in die Toilette zu befördern. Weiterhin lässt sich der Therapieerfolg bei weitem nicht nur am Gewicht messen. Bei vielen muss es vor allem im Kopf klicken und sich ein Schalter umlegen. Wenn ich dadurch gesund werden würde, dass ich ein paar Kilogramm zunehme, hätte ich ein Problem weniger.
So anstrengend das Ganze ist und so viel Angst und Respekt ich auch vor den nächsten Wochen und Monaten habe, fange ich langsam aber sicher an, mich mit dem Gedanken anzufreunden, noch eine Weile hierzubleiben und weiter an mir zu arbeiten. Mal sehen wie lange dieser Gedankengang anhält. Hoffentlich länger als bis zur nächsten Mahlzeit, die nach einer höheren Kaloriengesamtzahl aussieht. 😉
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