Corona-Demos sind der neue “Postmoderne Protest”. Was unkonkret klingt, ist Teil einer umfangreichen Protestkultur. Um diese zu verstehen, ist es elementar, einen Blick auf die Geschichte des Protestes zu werfen.

Unter dem Hashtag #Aufstand folgt eine Artikelreihe von Timo Feilen, der sich den Corona-Protesten aus unterschiedlichen Blickwinkeln annähert. Seine Devise lautet dabei: Verstehen statt verurteilen!
1789 – Die Erfindung der Nation
Die wohl zentralste Disruptionsbewegung des 18. Jahrhunderts stellt die Französische Revolution dar. Die Ursachen der Revolution sind mannigfaltig: die absolute Herrschaft des Ancien Régime stürzt Frankreich in eine tiefe Wirtschaftskrise, Plünderungen und Räubereien gehören im Winter 1788/89 zum täglichen Geschäft. Gleichzeitig wächst der Missmut über die ständische Aufteilung der Gesellschaft: Der katholische Klerus bildet lediglich 0,5% der Bevölkerung, trägt aber die Insignien der Macht. Der Adel wiederum bildet 1,4% der Bevölkerung – er zahlt eine lächerlich geringe Kopfsteuer, besitzt dafür aber ca. 20% des Grundeigentums. Der dritte Stand, bestehend aus Bauern und Bürgern, bildet 98% der Bevölkerung. Einem Großteil dieses dritten Standes geht es um die tägliche Lebenssicherung. Die revolutionäre Stimmung scheint perfekt.
Aus dem Krisenbewusstsein heraus werden auf politischen Druck am 05. Mai 1789 die Generalstände einberufen, daraufhin wird nach einem Tauziehen zwischen den Ständen am 9. Juli 1789 die Verfassungsgebende Nationalversammlung einberufen. Der Monarch herrscht nicht mehr allein. Die Regierung rund um Ludwig XVI. will die Umstrukturierung steuern, doch vergeblich: am 14. Juli wird die symbolträchtige Bastille ‚erstürmt‘. Der taktierende König sieht sich gezwungen, dem dritten Stand weitreichende Zugeständnisse zu machen – das ‚Volk‘ hat gesiegt. Am 14. September 1791 wird aus Frankreich eine konstitutionelle Monarchie, Ludwig XVI. leistet einen Eid auf die Verfassung, in der es heißt: „Die Souveränität ist einheitlich, unteilbar, unveräußerlich und unverjährbar. Sie gehört der Nation. Kein Teil des Volkes und keine einzelne Person kann sich ihre Ausübung aneignen.“
Dies ist das Revolutionäre: ausgehend von der Fassung einer abstrakten Idee, dessen, was Volk und Nation seien, wird hier Souveränität der wiederum abstrakten Größe einer Nation zugetragen. Nicht mehr einzelne Institutionen sind souverän, sondern das Volk beziehungsweise die Nation sind es. Hier also entsteht die große Erzählung der Volkssouveränität, die nicht nur in Europa Geschichte schreiben wird. In Frankreich wird der Gedanke der Nation, die sich aus dem Volk zusammensetzt, geboren.
1848 – Souveränität dem Bürger?
Vor allen Dingen aber legt die Französische Revolution ein Muster der politischen Auseinandersetzung vor, das als genuin modern zu bezeichnen ist: Das Volk bildet einen Begriff seiner selbst, was in unmittelbarer Konsequenz die Möglichkeit gibt, sich nicht mehr bloß nach Ständen, Einkommen und Steuersatz zu differenzieren, sondern nach politischen Standpunkten und Überzeugungen: die moderne Politik wird in den Fluten der Revolution geboren. Zwischen dem Restaurationsjahr 1815 und dem weiteren Revolutionsjahr 1848 folgen insbesondere in Frankreich unzählige revolutionäre Erhebungen und Regierungswechsel, die auch in die einzelnen Fürstentümer ‚Deutschlands‘ überschwappen. Der ‚französische’ Begriff des politischen Bürgers stellt hierbei die Grundlage für die politischen Erhebungen dar.
Das vom 27. bis zum 30. Mai 1832 abgehaltene Hambacher Fest vereint Männer und Frauen zum erklärten „Nationalfest der Deutschen“. Man wendet sich hierbei gegen die bestehenden europäischen Verhältnisse, gegen die Willkürherrschaft der Fürsten, gegen soziale Missstände und fordert im Gegenzug Volkssouveränität und einen deutschen Einheitsstaat – Ideen, die auf den Erzählungen der Französischen Revolution aufbauen. Erst im Anschluss an das Festhalten an der Idee des Einheitsstaates bilden sich über die Ausformulierung von Verfassungen politische Parteien: Es gibt Konservative, Liberale, Demokraten, Linke und nicht zuletzt Aristokraten, die in unterschiedlichen Fraktionen zusammengefasst werden. Die erste frei gewählte Volksvertretung tritt am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammen: das moderne Parteiensystem atmet wiederum den Geist der Erzählung des Volks sowie des souveränen Nationalstaats. Hier jedoch ist zentral, dass der Staat ein Partizipationsrecht für die Bürger bereitstellt: Der Privatmann tritt auf die Bühne des Politischen unter dem Dach des „Theater Nationalstaat“.
1871 – Ein Staat im Staat?
Die nächsten großen Disruption findet abermals in Frankreich statt. Die ‚deutsche Revolution‘ schlägt fehl, es kommt nicht zur parlamentarischen Bildung eines deutschen Nationalstaates, doch gibt es auch auf preußischer Seite die Idee der Herstellung staatlicher Souveränität. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 endet am 28. Januar 1871 mit der Kapitulation der Stadt Paris, doch schon zehn Tage zuvor vollendet die Reichsproklamation von Versailles die angestrebte deutsche Einheit. Der preußische König ist von nun an „Deutscher Kaiser“ – der Kaiser aller Deutschen. Das Brisante: Die nationale Idee, einstige Idee des liberalen Bürgertums, entwickelt sich hier zur entscheidenden Erzählung konservativer Kräfte.
Das gebeutelte Frankreich, mittlerweile selbst konservativ regiert, unterläuft einer weiteren Disruption. Diesmal sind es sozialistische Mächte, die versuchen, eine Räterepublik einzurichten. Über die Beweggründe der Kommuarden lässt Friedrich Engels verlauten, das zweite französische Kaiserreich, nun geführt von Louis Bonaparte, sei auf Grenzerweiterungen angewiesen. Der Krieg gegen Preußen wird unausweichlich, die Pariser Revolution vom 4. September 1870 wertet Engels als Notwendigkeit: Das französische Kaiserreich „klappte zusammen wie ein Kartenhaus, die Republik wurde wieder proklamiert“. Das selbsternannte Volk versucht sich daran, das entstandene Machtvakuum mit Gewalt zu füllen. ‚Das Volk‘ setzt sich als Staatssouverän und kämpft noch nach der Niederlage Frankreichs gegen ‚innere Feinde‘ – jene die sich dem konstruierten Volk gegenüber exkludiert sahen. Die bewaffneten Arbeiter proklamieren am 28. Januar 1871 die Pariser Kommune. Als am 21. Mai die ‚eigentlichen‘ staatliche Truppen in Paris eintreffen, sind die Tage der Kommunarden gezählt: die selbsternannte Vertretung des Volkes wird abgesetzt und vom ‚eigentlichen‘ Staat ersetzt. Der Staat im Staat ist abgesetzt.
1917 – Wie Lenin die Politik (neu)erfindet
Ein anderer Staat wird im Zuge der Februarrevolution im Jahre 1917 abgesetzt. Zar Nikolaus II. dankt am 15. März unter Druck seiner Generäle ab. Der Zar scheitert an der Aufgabe, das krisendurchzogene Russland zu verwalten. Im Land fehlt es an Nahrungsmitteln während die Soldaten im Zuge des Ersten Weltkrieges an der Ostfront sterben – es kommt zu Erhebungen im Land. Noch gibt es kein einheitliches revolutionäres Subjekt. Zwar gibt es eine provisorische Regierung und den neugegründeten „Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ – den Sowjetrat -, doch spalten sich die Revolutionäre maßgeblich in zwei Splittergruppen auf. Die Gruppen eint ein sozialistischer Grundtenor, doch gibt es erhebliche ideologische Differenzen. Neben den von Lenin – der noch als Exilant in der Schweiz sitzt – angeführten radikalen Bolschewiki, die die Diktatur des Proletariats fordern, ist das frühe Revolutionsgeschehen eher von den frühen Sowjets bestimmt, die Lenin in weiten Teilen ablehnen.
Als Lenin in Petrograd erscheint, verkündet er, die provisorische Regierung sei nicht zu unterstützen, sondern ausschließlich seine politische Bewegung. Ein monatelanges Ringen zwischen den Bolschewiki rund um Lenin und der provisorischen Regierung beginnt, das am 7. November ein neues Ausmaß haben wird: die Roten Garden der Bolschewiki besetzen die entscheidenden Institutionen Petrograds, am Tag darauf wird Lenin „Vorsitzender des Rats der Volkskommissare“ – er ist der frisch geputschte Regierungschef. Aus Petrograd wird Moskau. Anders als der Aufstand der Kommunarden in Paris glückt der Staatsstreich – doch nicht Waffengewalt ist der entscheidende Grund für das geglückte Unterfangen, sondern intensive politische Bearbeitung des Volkes. Anders als die Kommunarden betreibt Lenin einen Großteil seiner propagandistischen Überzeugungsarbeit vor dem Putsch – das Volk steht tatsächlich zu einem nicht geringfügigen Teil hinter Lenin und den Bolschewiki. Anno 1917 werden politische Inhalte zum zentralen Differenzierungsmerkmal auserkoren, programmatische Unterschiede entscheiden über Staatsmacht und Souveränität. Die moderne Politik wird hier um eine entscheidende Facette erweitert.
1918 – Der Kaiser hat abgedankt, es lebe die Nation!
Das umhergehende Gespenst des Sozialismus macht auch vor dem Kriegsverlierer Deutschland keinen Halt. Zwar gibt es nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 den Begriff eines einheitlichen Volks, doch herrscht Uneinigkeit darüber, welche Staatsform die geeignete sei, um dieses Volk institutionell einzurahmen. In Berlin schießen schon vor dem 11. November ehemalige Soldaten nun nicht mehr für ihren Kaiser, sondern für die provisorische SPD/USPD Regierung oder für die die revolutionäre Bewegung um Karl Liebknecht oder Rosa Luxemburg oder für reaktionäre Organisationen, wie in etwa die Freikorps. Alle Gruppierungen sind sich darüber einig, wer zu Deutschland gehöre, doch ist man sich darüber uneinig, wie das Volk regiert werden soll.
Diese politische Auseinandersetzung wird auf der Straße ausgetragen. Heimkehrende Matrosen, die sich den Befehlen der Offiziere verweigern, meutern nun auf den Straßen Berlins. Das übergeordnete politische Ziel der provisorischen Regierung ist die Vermeidung eines flächendeckenden Bürgerkrieges: das Kaiserreich – und nicht nur das deutsche – ist untergegangen, nun aber braucht es eine neue Regierung, die zumindest Ordnung innerhalb der eigenen Staatsgrenzen stiften kann. Schon vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandes löst sich die Militärdiktatur auf und überlässt dem Parlament die Staatsgeschäft – Kaiser Wilhelm regiert hier nur noch auf dem Papier. Der Staat verlässt das sinkende Schiff und hinterlässt ein gewaltiges Machtvakuum. Es entsteht eine Politik ex negativo, die das Schlimmste verhindern will.
Am 9. November ruft Philipp Scheidemann die „Deutsche Republik“ aus: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue. Es lebe die Deutsche Republik.“ Zwei Stunden später ruft der Spartakistenführer Karl Liebknecht seine ureigene sozialistische Republik aus. Noch daneben formulieren revolutionäre Obleute ganz eigene Staatsentwürfe. Es existieren nun mindestens drei Systeme auf dem selben Territorium – formal. Die potentiell vierte Regierung – in Form der Entourage rund um Wilhelm II. – flüchtet ins niederländische Exil, um dort manisch Holz zu schlagen. Am 10. November lässt Friedrich Ebert verkünden, dass man sich zwischen SPD und USPD auf eine gemeinsame Regierung geeinigt habe. Ab dem 16. Dezember diskutiert man über eine geeignete Staatsform – man entscheidet sich für ein System von Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung und für ein parlamentarisches System. Der Historiker Michael Stürmer kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, es handele sich hier mehr um einen Zusammenbruch, denn um eine Revolution: „Dem russischen Oktober folgt kein deutscher November.“
Die Revolution ist nach außen hin beendet, doch dauert es nur bis 1933, bis abermals eine neue Staatsform installiert wird. Entscheidend ist hierbei: Einzelne politische Interessenvertreter kämpfen innerhalb eines nationalstaatlichen Systems, das noch immer auf den abgewandelten Ideen von 1789 aufbaut. Lediglich die Staatsform kann noch verhandelt werden. Mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 soll die Staatsform juristisch erfasst werden: die Verhandlung der Staatsform darf nicht auf der tagespolitischen Agenda stehen, sondern sie ist überhaupt erst der Rahmen des Politischen – eine erneute Disruption.
1968 – Die bornierte Revolte
Im Jahre 1968 kommt es zur ersten Protestwelle innerhalb der BRD. Die Töchter und Söhne bürgerlicher Eltern gehen mit erhobenen Fäusten durch Universitätsgebäude und auf die Straßen. Man rebelliert gegen einiges: die eigenen Eltern, insbesondere deren Nazivergangenheit, gängige Moralvorstellungen, miefige Professoren und Lehrer, den Staat, die Elite, die USA, den Vietnamkrieg, den Kapitalismus, verkrustete Institutionen, die Presse, die Polizei. Die Liste ließe sich noch lange weiterführen, doch soll durch die Auflistung eines deutlich werden: Die ‚Revolution‘ von 1968 ist zuallererst ein ‚Melting-Pot‘, der aus den vage formulierten einzelnen Kritikpunkten ein ‚revolutionäres Bewusstsein‘ entstehen lässt. Die Bürgerkinder, die sich ihren Protest aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft leisten können, revolutionieren in erster Linie sich selbst.
Neben der Bewunderung Mao Zedongs geht es darum, mit möglichst vielen Genossen das Bett zu teilen. Überhaupt werden Wohngemeinschaften zelebriert – Es entsteht ein Gemeinschaftsradikalismus unter Gesinnungsgenossen. Spätestens mit der Schaffung einer ‚revolutionären Mode‘ verkommt die angedachte Revolution – wie Jacques Ellul formuliert – zur Revolte. Der Protest erhält mit Jimi Hendrix seinen eigenen Soundtrack und mithin auch sein ureigenes ‚Feeling‘. Man will den Kapitalismus abschaffen und zeitgleich auch seinen Körper besser kennenlernen – die Revolution verkommt zum Lifestyle. Der Protest von 1968 wird für die Jugend zum identitätsstiftenden Selbstzweck – Revolution soll vor allen Dingen Spaß machen. Philippe Muray bezeichnet diese Liebe zur Party als „Cordicopolis“ – als tyrannische Utopie der Herzensverehrer. Dabei sei die cordicole Tyrannei wie ein Schönwetterkommunismus, bei dem es vor allen Dingen darauf ankäme, gute Laune zu haben..
Doch scheitert die Bewegung nicht nur an mangelnder innerer Organisation und dem kategorischen Imperativ der hedonistischen Selbstverwirklichung, sondern ist es insbesondere jener ‚Melting-Pot‘, der die eigentliche Sackgasse darstellt. Letztlich gibt es keine politischen Ziele, für die gekämpft wird, vielmehr wird ein diffuser Feind konstruiert, der im Begriff der Elite einen abstrakten Ausdruck findet. Man lehnt ‚die da oben‘ – das ausgemachte Establishment – zwar grundsätzlich ab, verfügt aber über keinerlei tatkräftige Konzepte, um ernsthafte Alternativen zu fassen: Wer soll denn nun regieren? Wie wäre das Verhältnis zur DDR? Wie das Verhältnis zur Sowjetunion? Zwischen Joints und – teils gar feministischen – Marx-Lesekreisen knabbert man an Regierungsfragen. Letztlich wissen die Vertreter des revolutionären Lifestyles selbst nicht, gegen was sie eigentlich protestieren – Hauptsache man kämpft für die gute Sache. Was sich selbst den Anschein des politisch Aufgeklärten gibt, muss doch nüchtern betrachtet als gesinnungsethische Überwindung des Politischen im Sinne Carl Schmitts betrachtet werden: Zwar wird noch ein Feind konstruiert – das besagte Establishment -, doch geht es mehr um die Selbstkonstruktion – man möchte etwas verändern, man möchte Teil von etwas sein, man möchte überhaupt etwas sein und darstellen. Mit Recht kann man hier vom ‚Pippi Langstrumpf-Protest‘ sprechen: „ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt“.
Grundsätzlich besteht für jede Protestbewegung die Gefahr, dass sie in der Sackgasse und Handlungsunfähigkeit endet. Michel Foucault verzeichnet eine grundsätzliche Bewegung, die Protesten und Revolten zueigen ist: Immer entstehen diese als „Verhaltensrevolten“ und „Gegen-Verhalten“. Proteste und Revolten sind nicht per se politische Proteste, vielmehr bildet eine weit gefasste ablehnende Haltung gegenüber den Regierungspraktiken ein Sammelbecken derer, die mit ihrem ‚alternativen’ Verhalten ihrem Protest Ausdruck verleihen wollen. Erst nachdem sich die Protestgruppe unter dem Banner der „Verhaltensrevolte“ zusammengeschlossen hat, kann eine wirkliche politische Ausdifferenzierung folgen. Jedoch bedeutet dies auch, dass nicht jede Revolte einen politischen Kern in sich trägt. Die Lage im Jahre 1968 war komplex: hier vermischen sich „Verhaltens-Revolte“ und politische Revolte. In Frankreich protestieren einerseits Arbeiter gegen untragbare Arbeitsbedingung, dagegen protestieren Studierende an den Universitäten gegen ‚gesellschaftliche Verhältnisse‘. Nicht wenige von ihnen nahmen sich der aufkommenden „Hippie-Kultur“ an. Ähnlich wie in der Bundesrepublik prallen hier unterschiedlichste Beweggründe aufeinander, die jedoch zu einer gegenseitigen Blockade heranwuchsen – anders als 1789 kam es nicht zu einer ‚Verbrüderung‘ unter dem politischen Narrativ des Nationalstaats, sondern es kam zu gegenseitigen Bezichtigungen und dem Ende der Proteste. Es ist die reichhaltige und komplexe Ausdifferenzierung der Proteste in verschiedene Subproteste, die das Scheitern begünstigt.
Postmoderner Protest
Mit der RAF gibt es zwar noch einzelne verzweifelte Versuche, dem Protest eine gewalttätige Note zu verleihen, doch werden aus einem Großteil derjenigen, die 1968 mit Ziegelsteinen bewaffnet dem Staat ein Ende bereiten wollten, Ärzte, Beamte, Journalisten, Lehrer, Professoren, Studienräte, Moderatoren, Mütter, Väter. Die Bürgerkinder kehren heim in das warme Nest, das sie kurzzeitig verlassen hatten, um sich selbst zu finden. Die Welt hat man nicht verändert, aber ‚Signale gesetzt‘.
Gleichzeitig markiert 1968 das Ende des modernen Protests und zeitigt den postmodernen Protest, der durch folgende Kennzeichen zu fassen ist: 1. Das implizite oder explizite Wissen um die Unmöglichkeit eines ‚Systemwechsels‘, das durch die komplexe Ausdifferenzierung der Protestparteien begünstigt wird, 2. die popkulturelle Eventisierung des Protests, 3. die Unmöglichkeit einer konzisen Feindeskonstruktion. Postmoderne Proteste zeichnen sich insgesamt vor allen Dingen dadurch aus, dass sie zu akzeptieren scheinen, dass Veränderung überhaupt nur innerhalb des gegebenen Systems geschehen kann: der liberale Status Quo wird durch jede Protestwelle ausgebaut und ausgeweitet, geht es diesen Protesten doch letztlich lediglich noch um das Justieren vereinzelter Stellschrauben. 1968 markiert insofern eine Wende, als dass hier der liberale Status Quo der Herrschaftsordnung innerhalb der Bundesrepublik zementiert wird. Spätestens mit dem Fall der Mauer 1989 stirbt der – ohnehin zum Alptraum verkommene – Traum einer nicht liberalen und kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung – die liberale Herrschaftsordnung wird nun territorial ausgeweitet. Auch das Ende der Sowjetunion und deren zunehmende Liberalisierung scheint massive Disruptionen zu verunmöglichen.
Ein Großteil der heutigen Protestbewegungen lässt sich unter dem Idealtypus des postmodernen Protests subsumieren: Kinder und Jugendliche stehen heute auf den Straßen und protestieren für ein ‚klimagerechtes Wirtschaften‘, 2011 klagt die Occupy Bewegung kapitalistisches Wirtschaften an, Gelbwesten wissen selbst nicht recht, wer sie sind und gegen wen sie kämpfen, Pegida Demonstranten fürchten Massenzuwanderung, Umweltschützer wollen wahlweise den Kohleabbau- oder Autobahnenbau verhindern, Black Lives Matter Anhänger fordern ein Ende des Rassismus, MeToo Anhänger fordern das Ende des Sexismus.
Auch diese Auflistung ließe sich weiter fortführen, doch wird schon hier eines deutlich: Die Proteste scheinen Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte beizupflichten: mit der liberalen Gesellschaftsordnung endet die Geschichte, denn der Liberalismus stellt den letzten möglichen sozialen und politischen Handlungsrahmen dar. Der Protest innerhalb diesen Rahmens kann höchsten noch dafür sorgen, dass alle Schafe wohliger umsorgt werden: jeder wird in seinen Partikularinteressen anerkannt, bis niemand mehr Grund zur Beschwerde hat. An den extremen Rändern der Gesellschaft, ganz gleich ob links oder rechts, scheint man sich in einer Sackgasse zu befinden, auch hier scheint es, als wolle man Fukuyma insgeheim beipflichten. Denn wird zwar der liberale Status quo abgelehnt, doch ist der Protest sowohl in seiner Quantität wie auch in seiner Qualität ebenso randständig und marginalisiert wie die Gruppierungen selbst – weder von extremen Antifaschisten noch von Neo-Nazis ist ein ernstzunehmender Staatsstreich zu erwarten.
Teil 2 folgt.
Schreibe einen Kommentar