Nach den Forschungsergebnissen von Arne Dietrich besteht das Gehirn aus zwei Systemen: einem expliziten und einem impliziten System. Die Systeme funktionieren folgendermaßen: Das explizite System hilft dabei, Sachverhalte flexibel zu handhaben und sie auch zu manipulieren. Dieser Denkprozess ist langwierig. Das implizite System dagegen ist nicht flexibel, agiert automatisierter und passt sich auf ein Verhalten schnell und effizient an. Wie kommt der Flow zustande? „Alle komplexen Prozesse benötigen viel Zeit. Da das Gehirn bei körperlichen Bewegungen Höchstleistungen vollbringt, reduziert es das explizite System im präfrontalen Cortex. Das führt dazu, dass wir unsere automatisierte Bewegung nicht mehr hinterfragen müssen und dadurch ein unbeschwertes Gefühl verspüren.“
Herr Dietrich, der Sportler im „Flow-Zustand“ sagt, er fühle sich in der besten Form seines Lebens. Das macht Ihre Forschung nicht nur für Spitzensportverbände weltweit sehr begehrt – und jedes Land wird Ihre Erkenntnisse als erstes haben wollen. Wer erfährt zuerst davon und wann sind die ersten Ansätze zu erwarten?
Die Kenntnisse werden für alle zugänglich sein, nicht nur für bestimmte Länder und Sportler. Die Chinesen, die Amerikaner, die Deutschen werden alle darauf anspringen, da das Wissen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil mitbringt. Die Ansätze sind bereits da und werden in Zukunft konkreter werden, vielleicht in zehn, 20, 30 Jahren. Der Flow-Zustand wird den Sport revolutionieren und Teil des neuen Rekordstrebens sein.
Ihr Kollege, der emeritierter Professor für Psychologie Mihály Csíkszentmihályi, hat behauptet: „Wenn einem das, was man macht, gefällt, und es zudem so viel von einem fordert, dass volle Konzentration nötig ist, kommt man in den Zustand des Flow.“ Geht das wirklich so einfach?
Ja und Nein: Im Prinzip ist das richtig. Aber es ist zu generell. Denn es gibt zu viele Ausnahmen. Die Bewegung, die man macht, muss auf eine sehr ausgefeilte Art und Weise passieren. Man muss gut sein. Nur, wenn man etwas sehr häufig sehr gut gemacht hat, kann man in den Flow kommen.
Was heißt „gut“? In Ihrem Implus-Vortrag beim Kiku. International Mountain Summit haben Sie noch von der „Routine im Bewegungsablauf“ gesprochen.
Genau, denn wenn eine Bewegung nicht automatisiert ist, dann ist ein Flow-Erlebnis unwahrscheinlich. Außerdem muss man sie korrekt ausführen. Wer den Bewegungsablauf noch nicht gut kann oder ihn erst lernt, braucht zu viele kognitive Kapazitäten. Genau die müssen aber abgeschaltet werden, Routine muss entstehen. Sonst kann kein Flow erfolgen.
Heißt das, ich kann einen Flow trainieren?
Das ist schwieriger. Aber eine Grundvoraussetzung für den Flow ist, dass ich einen Bewegungsablauf sehr gut kann, ihn also trainiert habe. Ich muss die Bewegung buchstäblich laufen lassen. Und sie muss meinen Möglichkeiten und Fähigkeiten entsprechen. Nur dann kriegt man das Gefühl, dass man einen Schritt macht, der genau passt und den die Aufgabe verlangt. Das explizite System muss heruntergefahren werden. Und je mehr man es herunterfährt, umso mehr kommt man in diese Automatismen rein. Das Problem ist aber, dass wir immer wieder Kontrolle üben wollen. Und das ist ein negativer Effekt auf den Automatismus. Das explizite System abzuschalten ist extrem schwer, vor allem bei Druck.
Welchen messbaren Vorteil hätte der Sportler im Flow?
Solche Messungen gibt es im Augenblick noch nicht. So kann man das auch nicht quantifizieren. Es sind eher Daten, die von den Selbsterfahrungsberichten der Athleten kommen. Die Sportler sagen, dass sie verspüren, dass es die beste Phase ihres Lebens war. So wissen wir, auch vom impliziten System, dass die Bewegungsausführung optimaler ist, als wenn das explizite System reinfuscht. Gehen wir davon aus, dass das stimmt, denn wir haben keine gegenteiligen Daten. Der Flow optimiert unsere Bewegung – und damit auch den Output.
Moment, wenn der Flow von unserer Bewegung abhängt, dann muss ein Flow-Zustand auch bei Computerspielen möglich sein.
Ja, aber das kommt daher, da der Körper Bewegung hat. Hier ist der Input und Output nur auf ein paar Finger gerichtet. Man erhält einen Input und reagiert sehr schnell darauf. Es ist egal, ob ich nun meine Schulter bewegen muss oder nur ein paar Finger. Man braucht im Flow-Zustand nicht zu überlegen, wie viel man drücken muss, um etwas auf dem Bildschirm zu erreichen.
Nehmen wir an, Sie finden ein übertragbares Konzept, das zum Flow führt. Dann wäre die Folge, dass Leistungssportler ihre Höchstleistung einfacher abrufen könnten. Damit würden alle Rekorde geknackt werden. Und auch mehr Risiken auf die Sportler zukommen.
Wir haben jetzt die ersten Ansätze von einer mechanistischen Erklärung. Und diese Erklärung versuchen wir jetzt auf einem tieferen Niveau zu erklären. Dann kommt die praktische Anwendung. Die Sportler werden sich das neue Konzept aneignen und manche werden besser darauf anspringen als andere. Ich glaube nicht, dass es Nachteile haben wird. Es würde Verletzungen vorbeugen, da wir die Kontrolle über unseren Bewegungsablauf hätten. Der Stabhochspringer könnte seine Bewegung wesentlich optimierter ausführen. Das ist anders beim Fußball: Bei einer optimalen Grätsche wird das schwierig für mich als Gegenspieler. Ich könnte mir auch diese Szenarien vorstellen. Aber das hängt von Personen ab, die ich nicht kontrollieren kann.
Wie steht es mit den Auswirkungen auf andere Bereiche? Ihre Forschung könnte dazu benutzt werden, dass Spielehersteller ihre Konzepte so entwickeln, dass sie uns automatisch in einen Flow-Zustand versetzen. Wir würden – Ihrer Deutung nach – Glücksgefühle verspüren und wohl noch eher süchtig zu spielen. Mit dem bewusst ausgelösten Flow könnte man also Menschen und Interessen manipulieren.
Daran habe ich noch nie gedacht, aber das könnte ich mir gut vorstellen. Wenn die Induktion des Flow abhängig ist von bestimmten Bewegungsabläufen und wir das nachweisen könnten, dann wäre das knuffig. Dann kann man schon sagen, dass die Spielabhängigkeit und der Spiele-Verkauf deutlich zunehmen, weil man besser versteht, wie man die Leute an der Konsole hält.
Lassen Sie uns das Gedankenspiel noch fortführen. Herr Dietrich, Ihre Forschung könnte ja auch grundlegende Denkmuster manipulierbar machen.
Nicht für mich. Wir bauen auch keine Atombombe und sind keine Physiker. Das ist für den Gesetzgeber zu regeln und für die Gesellschaft zu entscheiden, was sie mit dem Wissen macht. Sie benutzen das Wort „manipulieren“ in diesem Fall sehr negativ. Wir mögen es nicht, manipuliert zu werden.
Welchen Ausdruck finden Sie passender?
Ich benutze das Wort ja auch. Aber wenn wir etwas verstehen, dann können wir damit arbeiten, es anwenden. Und Anwendung ist anders als Manipulation. Man kann Forschungen immer auch negativ verwenden. Aber dafür sind wir nicht verantwortlich.
Ist Ihnen als Forscherteam der Mehrwert des Wissens relevanter als die Frage nach der Vernunft?
Man kann das alles auch umdrehen und sich fragen: „Was halten wir uns vor, wenn wir das nicht machen?“ Der Chirurg könnte dadurch zum Beispiel eine bessere Operation machen. Ich würde schon sagen, dass der Wissenschaftler, obwohl er moralische und ethische Vorgaben hat, für das Resultat nicht verantwortlich ist. Grundlagenforschung sollte relativ frei davon sein. Wir sind nicht im Mittelalter.
Herr Dietrich, vielen Dank für das Gespräch!
Sehr geehrter Damen und Herren,
in der tat, ein sehr gute Artikel über Flow.
Spitzensportler erzielen ihre beste Leistungen in “the zone” – eine andere Name für Flow.
“Every professional athlete wants to be in the zone, where everything flows so effortlessly and you are executing automatically everything you are intending to execute. You don’t need to think too much. I guess you’re driven by some force that takes over you and you feel divine, you feel like in a different dimension. It’s quite an awesome feeling that we all try to reach and stay in.”
Novak Djokovic 1919, The Guardian von Kevin Mitchell
Mit freundlichen Grüßen
Vladislav Ilijin