Lesen ist Hobby, Beruf und Ausgleich in einem. Aber nur allzu oft wird Literatur zum Stressfaktor. Die Schlüsselkompetenz des Speed Readings hat schon tausenden Menschen geholfen, ihre Lesegeschwindigkeit und ihr Leseverständnis extrem zu verbessern. So wurde ich neugierig und befragte den Speed-Reading-Coach Mirko Thurm.

Hallo Mirko, was ist die Grundidee des Speed-Readings?
Beim Speed Reading, liest man in Wortgruppen. Man nimmt also „pro Blick“ mehrere Wörter auf einmal auf. Der durchschnittliche Leser liest pro Fixierung ein Wort und kann sich darauf trainieren pro Fixierung drei Wörter zu lesen, wodurch er dann seine Lesegeschwindigkeit verdreifacht hätte. Es gibt allerdings noch andere Faktoren, die uns daran hindern, schneller zu lesen. Einer ist zum Beispiel unsere innere Stimme: Die Stimme in unserem Kopf, die jedes Wort innerlich mitliest. Wir können nur bis zu einer gewissen Geschwindigkeit sprechen, ansonsten wird es undeutlich. Speed-Reader haben diese Stimme weitestgehend heruntergeschraubt und können dadurch schneller lesen.
Wie kamst Du überhaupt zu diesem Themengebiet?
Das Wort Leidensgeschichte klingt zwar sehr dramatisch, aber in meinem Fall, war es wirklich eine: Bevor ich das Speed-Reading kennengelernt habe, hatte ich immer sehr langsam gelesen. Gerade in Fachbüchern habe ich Abschnitte doppelt und dreifach lesen müssen, bin dabei mit meinen Gedanken immer wieder abgeschweift und konnte mir nur wenig von dem merken, was ich gelesen hatte. Nach einigen Startversuchen mir das Speed Reading autodidaktisch anzueignen, besuchte ich in Berlin einen professionellen zweitägigen Speed Reading-Kurs. Ich habe meine Lesegeschwindigkeit im ersten Kurs verdoppelt und konnte sie durch meine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik danach noch einmal verdoppeln. Begonnen habe ich mit 200 Wörtern pro Minute und mittlerweile hat sich meine Lesegeschwindigkeit bei 800 Wörtern pro Minute eingependelt. Man mag es kaum glauben, aber man erreicht ein sehr gutes Textverständnis gerade bei hohen Lesegeschwindigkeiten. Das ist auch bei mir so.
Der große Mythos in meinem Kopf lautet: Nur wenn ich etwas langsam und Stück für Stück lese, kann ich den Text zu 100 Prozent verstehen. Was sagst du dazu?
Wie du schon richtig sagst, es ist ein Mythos. Unser Gehirn versucht immer seine maximale Kapazität auszuschöpfen. Wir haben die Fähigkeit 800 bis 1.000 Wörtern pro Minute zu lesen, lesen aber im Schnitt nur 200 bis 250 Wörtern pro Minute. Das heißt, während wir lesen, nutzen wir normalerweise nur 25 Prozent unserer Fähigkeiten. Die anderen 75 Prozent unseres Gehirns bleiben beim „langsamen“ Lesen ungenutzt. So geschieht es, dass wir während des Lesens mit den Gedanken manchmal ganz woanders sind und Schwierigkeiten mit dem Verständnis bekommen. Beim Speed Reading ist man einfach voll auf den Text fokussiert und nimmt seine Umwelt gar nicht wahr. Das Resultat: Ein besseres Verständnis und eine bessere Erinnerung an das Gelesene.
Was ist der fundamentale Unterschied zwischen dem Verständnis eines Textes und der Erinnerung an einen Text?
Oftmals hat man das Gefühl, einen Text gut zu verstehen, aber sobald man das Buch zuklappt, kann man sich nicht mehr an so viele Details erinnern. Das ist dann ein Erinnerungsproblem, kein Verständnisproblem. Zusätzlich zum reinen Speed Reading kann man hier mit individuellen Lesestrategien helfen.
Kannst Du das konkretisieren?
Sich vorher einen Überblick über den Text zu verschaffen, bevor mit dem eigentlichen Lesen begonnen wird, bringt viel. Im Prinzip sollte man sich aufwärmen, bevor man ins kalte Wasser springt. Das heißt, die ineffizienteste Art und Weise ist es, einen Text einmal mit ein und derselben Geschwindigkeit zu lesen und dabei schon alles zu markieren. Man sollte sich vorher kurz mit Textaufbau, Inhaltsangabe, Autor, Register, Erscheinungsdatum und den eigenen Lesezielen auseinandersetzen.
Wie sieht eine effektive Nachbereitung aus?
Unser Gehirn ist vergesslich. 40 Prozent aller Informationen sind nach einer Stunde wieder vergessen. Nach 24 Stunden hat man schon 50 Prozent vergessen. Am besten ist es, wenn man das Gelesene auf einer Mind Map festhält. Um es ins Langzeitgedächtnis zu transferieren, ist es wichtig, das Gelesene in verschiedenen Intervallen in komprimierter Form zu wiederholen. Daher die Mind Map. Die erste Wiederholung mit der Mind Map sollte direkt nach dem Lernen stattfinden. Die zweite Wiederholung sollte am nächsten Tag und die dritte innerhalb der nächsten drei bis vier Tage erfolgen. Wer dies tut, wird wichtige Informationen noch lange Zeit später abrufen können.
Wie wichtig sind Pausen im Leseprozess?
Unser Körper hat viele verschiedene Rhythmen. Den Schlafrhythmus kennt jeder. Allerdings läuft auch unser Energie-Level nach einem Rhythmus ab, nach der „ultradianen Rhythmik“. Nach 90 bis 120 Minuten höchster Konzentration geht die Kurve dieser Rhythmik extrem nach unten. Viele helfen dann mit Kaffee oder Zucker nach und pressen den letzten Saft aus ihren Zellen. Wer dieses Konto ständig überzieht, der fühlt sich entweder schon während des Lernens unkonzentriert, oder am Ende des Tages müde und kaputt. Fazit: Man sollte auf seinen Körper hören und ihm eine Lernpause geben, wenn er sie fordert. Ich lese in folgendem Rhythmus: Für 60 Minuten lese ich ohne Ablenkung darauf folgt dann eine 15-minütige Pause. Man kann diesen Rhythmus auch ändern: 25 zu 5, 60 zu 15 oder 90 zu 30, das ist abhängig von der jeweiligen Gefühls- und Tagesform.
Ein Drittel der Zeit beim Lesen wird dafür verschwendet, Passagen doppelt zu lesen. Kann ich das verhindern?
Ja kannst du. Der durchschnittliche Leser springt nach einem Drittel der Lesezeit wieder zurück zu Textstellen, die er vorher schon einmal gelesen hat. Meist passiert das, weil man mit den Gedanken abgeschweift ist. Häufig springt man aber auch innerhalb einer Zeile zu Wörtern zurück, die man vermeintlich nicht verstanden hat. 90 Prozent aller Informationen erklären sich von selbst besser, wenn sie in einem Kontext stehen. Wer liest, holt sich Informationen, die in einen solchen Kontext eingebettet sind. Wenn man sich vom Textinteresse jedoch nach vorne ziehen lässt, bekommt man den Sinnzusammenhang auch ohne Zurückblicken raus.
Was ist die effektivste Übung um ins Speed Reading einzusteigen?
Man nimmt den Zeigefinger oder einen Stift und fährt dabei unterhalb der Zeile lang, die man lesen möchte. Dabei kann man ein Metronom verwenden und den Takt so einstellen, dass man bewusst leicht überfordert wird. Pro Taktschlag, liest man eine Zeile. Auf meiner Seite http://speedstudents.de/ gibt es ein kostenloses eBook, in dem diese Übung detailliert dargelegt wird.
Nach der Pareto-Regel stehen 80 Prozent der Informationen in nur 20 Prozent des Textes. Wie lässt sich dieser Fakt nutzen?
Gerade Zeitungsartikel oder Fachliteratur haben Einleitungen am Anfang und Zusammenfassungen am Ende. Wer diese zuerst liest, bevor er mit dem eigentlichen Lesen beginnt, zieht schon einen Großteil der Informationen aus dem Text.
Was ändert sich an der Lesetechnik wenn mir ein sehr komplexer Fachartikel vorliegt? Wechsle ich da nicht trotzdem wieder in mein Wort-für-Wort-Schema?
Die generelle Regel lautet: Je einfacher und leichter der Text, desto schneller lese ich. Man wird also ein Kinderbuch egal, ob mit oder ohne Speed Reading immer schneller lesen, als einen komplexen Fachartikel. Anwendbar ist das Speed Reading aber auch auf Fachliteratur. Nur muss man gerade hier auf eine gute Lesestrategie achten. Einer guten Vorbereitung, Nachbereitung und ausreichenden Pausen kommen hier eine noch größere Rolle zu.
Vielen Dank für dieses Gespräch!
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