Noch nie hat ein Mitgliedsland die Europäische Union verlassen. Doch das könnte sich bald ändern. Die Europaskeptiker in Großbritannien erfahren seit Jahren Zulauf. Am 23. Juni stehen die Briten vor der schicksalshaften Wahl. Europa: Ja oder Nein? F1rstlife hat mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutsch-Britischen Gesellschaft, Hans-Henning Horstmann, Botschafter a.D., gesprochen.

Herr Horstmann, zuallererst: Wie kommt es in Großbritannien überhaupt zu dieser europaskeptischen Haltung?
Zur Zeit sehen wir generell in der Europäischen Union eine zunehmende Europaskepsis. Dies betrifft auch und gerade die Gründerstaaten, wenn wir zum Beispiel nach Frankreich, Belgien, Niederlande und Deutschland schauen. Aber es ist richtig: In Großbritannien gab es stets eine Skepsis gegenüber dem Projekt der Europäischen Union. Der Beginn der Zusammenarbeit mit der damaligen Europäischen Gemeinschaft war alles andere als einfach. Der Beitritt erfolgte 1973 und wurde zwei Jahre später durch ein Referendum bekräftigt. Traditionell haben die Briten und insbesondere die Engländer nie ein Zugehörigkeitsgefühl zu diesem organisierten Europa entwickelt. Und die Entwicklung hin zur Europäischen Union hat die Diskussion in der politischen, aber auch wirtschaftlichen Elite in Großbritannien erneut angeheizt.
Welche Rolle spielt die UKIP-Partei in der Frage nach dem Brexit?
UKIP spielt dort eine entscheidende Rolle, weil sie es war, die den Premierminister Cameron letztlich veranlasst hat, bei den Parlamentswahlen 2015 zu versprechen, die Referendumsfrage in Aussicht zu stellen. Und sie wird mit ihrer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Anhängern ihre Kampagne fahren und hat daher eine wichtige Bedeutung.
Die United Kingdom Independence Party gründete sich 1993 und setzt sich für den Brexit ein. Da sie hauptsächlich dieses Feld besetzt, gilt sie als Ein-Themen-Partei. Bei den Europawahlen 2014 entfielen 27,5 Prozent der Stimmen auf sie, bei den Unterhauswahlen 2015 holte sie 12,6 Prozent. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts in Großbritannien konnte UKIP dabei jedoch nur einen Sitz gewinnen. Sie wird als rechtspopulistische und nationalkonservative Partei eingestuft.
Wer macht sich denn im Gegensatz dazu für einen Verbleib in der EU stark?
In den jüngsten Tagen und Wochen haben sich große Unternehmer und die Wirtschaftsverbände zu Wort gemeldet. Zum Beispiel die Bank of England und die City of London. Das heißt vor allem große Unternehmen und der Finanzsektor haben ein Interesse am Verbleib in der EU.
David Cameron hat der EU einige Zugeständnisse abgerungen, vor allem geht es dabei um Sozialleistungen für Ausländer und eine souveräne Rolle Großbritanniens in der EU. Nun wirbt er für einen Verbleib in der Union. Welches persönliche Risiko geht er damit ein?
Wenn er das Referendum nicht gewinnen sollte, dann ist die Wahrscheinlichkeit seines Verbleibs als Premierminister der britischen Regierung mehr als zweifelhaft. Das ist sein Risiko. Ein weiteres Risiko ist die Spaltung innerhalb seiner eigenen Partei. Denn die Tatsache, dass sich der beliebte Boris Johnson (Bürgermeister von London, Anm. der Redaktion) gegen einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Union ausgesprochen hat, wird dem Wahlkampf der britischen Regierung nicht gerade förderlich sein.
Gehen Sie davon aus, dass Boris Johnson der Nachfolger Camerons würde, wenn dieser das Referendum verliert?
Das ist noch nicht gesagt. Aber er stellt sich gegenwärtig als eine Alternative in der Tory-Partei dar.

Welche wirtschaftlichen Folgen sind für Großbritannien selbst und für den Handel mit dem Land zu erwarten, wenn es zum Brexit kommt?
Das Investitionsklima für Unternehmen und Investoren wird sich verschlechtern. Ich meine, heute gehen über 45 Prozent der britischen Exporte in die Länder der EU und zehn Prozent der Waren importiert Großbritannien von der EU. Die Handelsbeziehungen zu Deutschland und den Niederlanden sind besonders eng. Europäische Finanzierungsgeschäfte werden aus London abwandern. Ein Brexit ist zunächst eine Zeit der Unsicherheit. Der Austritt nach Art. 50 des Lissabonner Vertrags bedeutet mindestens zweijährige, wenn nicht längere Austrittsverhandlungen, während denen sich Großbritannien von 30 Handelsabkommen mit 50 Partnerstaaten verabschieden muss. Diese Vertragsabwicklung, sowie das Ausscheiden aus dem Binnenmarkt, wird die britische Wirtschaft belasten.
Wären in Großbritannien Jobs gefährdet?
Ja. Arbeitsplätze sind gefährdet. Aus dem Finanzsektor werden Arbeitsplätze auf den Kontinent abwandern. Größere internationale Unternehmen, die auf Grund besonders guter Bedingungen in Großbritannien investiert haben, werden sich ihre zukünftigen Investitionen überlegen.
Sie waren lange Zeit im diplomatischen Dienst tätig. Ist im Falle eines Brexits mit Belastungen der deutsch-britischen Beziehungen zu rechnen?
Nein. Unsere engen historisch gewachsenen diplomatischen Beziehungen, gerade auch im Rahmen von Nato und anderen internationalen Organisationen, sehe ich im Falle eines Brexits nicht gefährdet. Wir werden die britischen Partner versuchen, zu gemeinsamem Handeln auch außerhalb der EU zu bewegen. Das wird schwierig sein, aber nicht unmöglich.
Das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland scheiterte. Trotzdem ist die Scottish National Party (SNP) proeuropäisch eingestellt. Wäre mit erneuten Unabhängigkeitsbemühungen in Schottland zu rechnen?
Über diese Frage wird in Großbritannien bereits jetzt öffentlich gesprochen. Gerade die Gegner des Brexits weisen darauf hin, dass die SNP selbst schon vor Ankündigung des Referendums verdeutlicht und es danach noch einmal bekräftigt hat, dass die Frage des Verhältnisses von Schottland zu London noch einmal auf die Tagesordnung kommen wird. Und ein Brexit wird sie eher früher als später auf die Agenda bringen.
Im September 2014 entschieden sich die Schotten mit 55,3 Prozent im Vereinigten Königreich zu bleiben. Haupttreiber des Referendums war die Scottish National Party (SNP). Seit 1998 gibt es ein schottisches Regionalparlament. Ab 2007 führte die Partei Schottland in einer Minderheitsregierung, seit 2011 mit einer absoluten Mehrheit. Die nächsten Wahlen finden im Mai 2016 statt. Die SNP bekennt sich zur Europäischen Union.
Wie sieht es mit Wales und Nordirland aus?
Was Wales betrifft, maße ich mir gegenwärtig kein Urteil an. Nordirland wird versuchen, einen eigenen Weg nach Europa zu finden.
Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit einer Abspaltung vom Königreich ein?
Für Schottland sehe ich aus heutiger Sicht tatsächlich eine Möglichkeit, dass ein Referendum für einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU kommen kann. Aber konjunktivisch. Bei Nordirland ist die Lage weitaus komplexer. Erste Priorität ist dort weiterhin der innere Frieden und die innere Verständigung. Wie sich das mit einem Referendum verträgt oder aber einem Antrag auf Mitgliedschaft in der EU, kann ich heute nicht absehen.
Auf Irland gibt es seit der Besiedlung der Insel durch Normannen und Engländer im Jahre 1169 Konflikte. 1921 wurde Irland geteilt. Der Konflikt wird häufig auf einen religiösen Konflikt zwischen pro-britischen Protestanten (Unionisten) und pro-irischen Katholiken (Republikaner) reduziert. Jedoch spielen auch andere distinktive Dimensionen eine Rolle. In Nordirland, das zum britischen Königreich gehört, sahen sich die Republikaner lange Zeit Schikanen und Diskriminierung ausgesetzt. Zwischen 1969 und 1998 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Unionisten und Republikanern, allen voran agierte die Irish Republican Army (IRA). Mit dem Karfreitagsabkommen 1998 wurde der Konflikt offiziell beendet.
Könnte Großbritannien ein Präzedenzfall in der EU werden und andere Mitgliedsstaaten auch zu Austrittsbemühungen bewegen?
Der Brexit wird vor allem eins befördern: die populistischen und nationalistischen Parteien in der Europäischen Union. Aber ich sehe zurzeit keine Nachahmungstäter.
Wie sähe die zukünftige Rolle der Briten in der EU aus, wenn sie sich für einen Verbleib entscheiden?
Sie haben eine ganz entscheidende Rolle und werden diese auch ausfüllen. Das britische Interesse bleibt es, den Binnenmarkt sowie Europas Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemeinsam mit Frankreich und Deutschland Europa endlich eine einheitlichere Stimme zu geben. Das heißt die Briten werden so wie jeder Mitgliedsstaat immer ein besonderer Partner bleiben. Sie waren in der Zeit ihrer Mitgliedschaft stets der entscheidende Treiber, wenn ich an den Binnenmarkt, die Agrarpolitik, die Osterweiterung 2004 oder an das digitale Europa denke. Auf den genannten Gebieten werden sie auch entscheidende Treibkraft bleiben.
Welches Ergebnis erwarten Sie und erfüllt es Ihre Hoffnungen?
Ich hoffe auf einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union. Ich bin zuversichtlich, dass eine Mehrheit erkennt: eine Politik der Isolation vom Kontinent mit besonderen Beziehungen zu außereuropäischen Staaten hat sich überholt. Die Zukunft gehört der europäischen Integration!
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Hans-Henning Horstmann studierte nach seinem Wehrdienst Rechts- und Staatswissenschaften. Nach mehreren Stationen im Auswärtigen Dienst ab 1972 war er von 2002 bis 2006 außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Österreich, danach bis 2010 am Heiligen Stuhl. Seit 2013 ist er Vorsitzender des Vorstands der Deutsch-Britischen Gesellschaft. Er setzt sich für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union ein.
Schreibe einen Kommentar