„Wir brauchen ein starkes Europa! Wir brauchen mehr Europa!“ Wer kennt nicht diese immer wieder postulierten Phrasen und hat sich schon einmal gefragt, was damit eigentlich konkret gemeint ist. Häufig wird vor allem von Politikern die Forderung nach einem starken Europa ausgesprochen. Martin Schulz fordert dieser Tage gar die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Wieso aber sollen wir mehr und ein stärkeres Europa brauchen?

In Deutschland gibt es mit der AfD eigentlich nur eine „alternative“ größere Partei, die hierzu einen vollständig anderen Standpunkt vertritt als die restlichen Parteien, die im September in den Bundestag gewählt wurden. Somit spiegelt sie im Bundestag auch als einzige die Europaskepsis eines nicht unerheblichen Anteils der Bevölkerung wieder.
Immerhin wurde die AfD zur drittstärksten Fraktion im neuen Bundestag und in vielen anderen europäischen Ländern zogen in den letzten Jahren ebenfalls anti-europäische Parteien mit einem noch höheren Anteil an Mandaten in die jeweiligen Parlamente ein. Wieso gibt es anscheinend so viele Gegner der europäischen Idee, wenn sie doch so oft gelobt und als einzig vernünftiger Zukunftsweg dargestellt wird?
Was mich persönlich an der öffentlich geführten Debatte stört, ist, dass es nahezu als unanfechtbare Position gelten muss, pro Europa zu sein. Hierbei wird oft nicht klargestellt, wo die Gründe hierfür liegen. Gleichzeitig wird kaum die Frage gestellt, ob man als Person, die sich eines normalen Menschenverstandes bedient, überhaupt auch gegen ein weiter zusammenwachsendes Europa sein kann und darf? Und somit auch nicht, ob es vernunftbasierte Argumente gegen eine weitere Vereinigung gibt. In Teilen der Politik wird dann schnell das Wort „Antieuropäer“ als Schmähung verwendet. Diese Haltung ist in einer meinungsfreien, demokratischen Gesellschaft sicherlich mindestens fragwürdig, wenn nicht bedenklich.
Viele Menschen, vor allem außerhalb aber auch innerhalb Deutschlands, mit denen ich über dieses Thema diskutiert habe, haben Sorge vor einem Identitätsverlust ihres Landes. Sie haben das Gefühl, nicht von der EU zu profitieren, sondern ausgenutzt zu werden und fühlen sich aufgrund unnötiger Reformen durch die EU benachteiligt. Sei es der Kleinbauer in Osteuropa, der seinen Betrieb mit großem, finanziellem Aufwand an EU-Richtlinien anpassen muss oder der Gastwirt, der seine Küche umbauen muss, um europäischen Hygiene-Verordnungen gerecht zu werden. Ich habe auch mit gleichaltrigen Italienern und Griechen darüber gesprochen, was sie als Ursachen für wirtschaftliche Schwächen ihrer Länder im stärker gewordenen Europa ansehen. Oft habe ich dann gehört, dass wir Deutsche ja Profiteure seien und unseren Wohlstand den Krisen anderer EU-Mitgliedsstaaten zu verdanken hätten.
Aber stimmt das wirklich?
Sicherlich profitieren wir in Deutschland vom schwachen Euro und dank der Zollfreiheit durch hohe Exportgewinne. Jedoch ist Deutschland zugleich auch der Staat, der die höchsten Abgaben an die Europäische Union tätigt. Gewiss hat Deutschland profitiert und tut dies nach wie vor, jedoch ist es sehr fragwürdig, ob dieser Erfolg auf dem Rücken ökonomisch schwacher EU-Staaten basiert, da diese gleichzeitig finanziell von zusätzlichen EU-Geldern und Krediten anderer EU-Staaten profitieren. Auch hat Deutschland eine sehr starke über viele Jahrzehnte gewachsene Unternehmenslandschaft, weshalb in Deutschland produzierte Produkte in der Regel als qualitativ hochwertig angesehen werden und sich dementsprechend auch weltweit gut verkaufen.
Ich möchte klarstellen, dass ich ein absoluter Befürworter eines starken innereuropäischen Zusammenhaltes bin und mich auch als „überzeugten Europäer“ bezeichnen würde. Ich denke nämlich, dass ein starkes Zusammenwachsen Europas große Vorteile für alle Beteiligten mit sich bringt; gewiss nicht nur für Deutschland. Ich glaube nicht, dass Griechenland, Portugal und Italien ohne die Europäische Union aktuell wirtschaftlich besser dastünden.
Mich persönlich stört es jedoch in jeglichen Debatten, die hierzu in der Öffentlichkeit geführt werden, dass stets davon gesprochen wird, man solle Europa stärken, wobei eher selten darüber debattiert wird, wieso und wie das konkret auszusehen hat. Sicherlich ist dies auch eine Möglichkeit für etablierte Parteien, die sich dieser Tage ein neues Profil verschaffen wollen, sich von anderen mit klaren Vorstellungen abzugrenzen. Einen Vorstoß hat Schulz mit seiner Forderung nach Vereinigten Staaten von Europa nun getätigt.
Ein europaweit streitbarer Punkt: Wie weit möchte man gehen?
Ich denke, dass sich in der mangelnden Grundsatzdebatte sowie in wenig konkret skizzierten Visionen eines stärker werdenden Europas ein entscheidender Grund dafür finden lässt, dass sich bei so mancher politischen Debatte viele Menschen von den „Großen der Politik“ abgehängt fühlen – und somit auch populistische Alternativen an Zustimmung gewinnen.
Man sollte zuallererst die Menschen mit sachlichen Argumenten von einer Sache, in diesem Falle von der Stärkung der europäischen Idee, überzeugen und sich auf einen sachlichen Diskurs einlassen, bevor man voraussetzt, dass die Bevölkerung dahinter steht. Dies kostet sicherlich viel Aufwand und braucht seine Zeit. Aber nur so können gefestigte Denkweisen und Überzeugungen innerhalb der Bevölkerung entstehen, die sich nicht so schnell von plötzlichen politischen Trends und Lockrufen von Parteien anderer Meinung auflösen lassen. Und das über alle Generationen hinweg.
Gerade in meiner Generation sehe ich oft eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der europäischen Idee: Man nimmt sehr gerne die Vorteile wie die Möglichkeit eines Erasmus-Studiums im Ausland und die Freizügigkeit des Schengen-Abkommens in Anspruch. Vor allem letzteres wird in meiner Generation als selbstverständlich hingenommen. Aber selbstverständlich war es über sehr lange Zeit nicht und ist es auch noch lange nicht, was man gerade dann sieht, wenn man in aktuellen politischen Umfragen auf die Partei PiS in Polen, den Front National in Frankreich oder die Alternative für Deutschland bei uns blickt. Hierbei muss man jedoch auch sehen, dass die AfD noch mit diejenige rechtspopulistische Partei ist, die einen verhältnismäßig geringen Zuspruch im Vergleich zu denen in den meisten anderen Nachbarländern erfährt. Trotzdem sollte man sich die Argumente aller Seiten anhören und sich auf vernünftige Diskussionen einlassen.
Ich glaube, dass wir in Zukunft in ganz Europa vor allem darüber streiten müssen, wo wir gemeinsam hinwollen. Seien es die Vereinigten Staaten von Europa, ein Verbund in der jetzigen Form, eine auf wirtschaftliche Interessen ausgerichtete Staatengemeinschaft oder gar ein Kontinent rein geographisch zusammengehöriger Staaten. Ich persönlich denke, dass ein stärkeres Zusammenrücken allen beteiligten Staaten weiterhelfen würde, aber hierüber und über das „Wie“ sollte mehr gestritten werden!
Danke für diese Artikel! Es war eine gute Zusammenfassung von der aktuellen Situation. Ich finde auch, dass man mehr über EU debattieren sollte: was ist mit was man nennt unfair Konkurenz (concurrence déloyal)? Was ist mit massive arbeitlosigkeit? …
Frohe Weihnachten!!!
Hey Gilles,
Danke für deinen Kommentar!!
Das sind auf jeden Fall weitere wichtige Themenbereiche, die es gilt in die Diskussion mit einzubeziehen! Ich glaube jedoch, dass man besonders das Problem massiver Arbeitslosigkeit gemeinsam besser lösen kann, als in Form isolierter Staaten und auch den unlauten Wettbewerb gilt es als Gemeinschaft zu lösen.
Frohe Weihnachten!!
Vielen dank für diese umfangreiche Analyse Europas.In Afrika ist die Zusammenarbeit mit Europa ein wesentlicher Bestandteil unserer Zukunft.Migration ist ein wichtiges Thema der europäischen Politik und es wird erwartet,dass rechtspopulistische Parteien ein paar Faktoren wie der Krieg in Syrien in Betracht ziehen.
Da hast du absolut recht! Es ist wichtig eine gute Zusammenarbeit anzustreben. Zum einen sollte man aus humanitärer Sicht Afrika unterstützen. Gleichzeitig hilft man sich selbst auch, da man so Fluchtursachen bekämpft, woran in Europa ein Interesse gegeben ist.
Worauf sollte aus deiner Sicht der größte Schwerpunkt bei der europäisch-afrikanischen Zusammenarbeit gelegt werden?