Manche Bücher gehören unumstritten zur Weltliteratur. In der Liste der wichtigsten Werke fehlt jedoch ein Buch meistens: Die Bibel. Die einzelnen Teile der Heiligen Schrift von Juden und Christen ist große Literatur. Sie spricht alle von Liebe und Hass, von bösen und guten Menschen, von Leben und Tod. Kurz: Sie hat alles, was eine gute Geschichte braucht. Von Benedikt Bögle.

Der Faust von Goethe, seine „Leiden des jungen Werther“, Homers Illias und Odyssee, Schillers Räuber, Shakespeares Sommernachtstraum: Es gibt Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke, bei denen niemand bezweifelt, dass sie ein Stück „Weltliteratur“ sind. Diese Werke sind einer breiten Masse bekannt, wenn auch nur in kleinen Auszügen oder Details. Man kennt die Protagonisten: Den Dulder Odysseus in Homers Epos etwa. Man kennt einzelne Szenen und Begebenheiten: Den Tod des unglücklichen Werthers aus Goethes „Leiden des jungen Werther“. Ja, bisweilen sind es sogar Zitate dieser großen Werke, die zu geflügelten Worten werden: „Wie hältst du’s mit der Religion?“, die Frage an Faust in Goethes gleichnamigen Drama.
Bei all diesen Werken kann man nicht daran zweifeln, dass sie Weltliteratur sind. Aber es gibt noch andere Schriften – etwa die Bibel. Auch wenn es sich um religiöse Bücher handelt, hinter denen die Religionsgemeinschaften Gott als letzten Sinnstifter, als Anreger für die Autoren sehen, können die einzelnen Bücher der Bibel dennoch als ein Stück der großen Weltliteratur gelten. Was ist es denn, was Literatur ausmacht? Über wahre Literatur kann Jahrhunderte lang gesprochen werden. Die beiden großen Epen „Illias“ und „Odyssee“ entstanden vermutlich vor zweieinhalb tausend Jahren. Trotz des Alters werden diese Texte nicht uninteressant. Bis heute wird Homer in der Schule behandelt, Textausgaben der Epen werden auch heute noch verlegt.
Einige Bücher des Alten Testaments sind alt, ur-alt, reichen in mündlicher Überlieferung vermutlich dreitausend Jahre zurück in die Geschichte. Und zugleich wollen diese Schriften nicht einfach schöne Erzählungen sein. Nein, sie wollen etwas über das menschliche Leben sagen, wollen zeigen, warum der Mensch ist, wie er ist.
Für jedes Buch, jedes Theaterstück, jeden Artikel gilt: Der Anfang muss gut sein. Ist er das nicht, bleibt der Leser nicht hängen, überblättert die nächsten Seiten. Einen guten Anfang kann man dem Buch Genesis wirklich bescheinigen, erklärt es schließlich nichts anderes als die Entstehung der Welt. In sieben Tagen – so das Buch Genesis – erschuf Gott den Himmel, die Erde, die Tiere und schließlich den Menschen. Ein naturwissenschaftlicher Bericht der Ereignisse? Nein, heute dürfte es nur noch wenige Menschen geben, die diesen Text tatsächlich wörtlich nehmen und als wissenschaftliche Anleitung zur Erschaffung der Welt lesen möchten. Wie unrecht diese Kreationisten haben, zeigt sich schon auf der nächsten Seite der Bibel. Nochmals wird erzählt, wie Gott den Menschen erschuf – allein: die Geschichte hört sich nun anders an. Gott nimmt eine von Adams Rippen, um Eva zu erschaffen. In der ersten Schöpfungserzählung war davon noch nichts zu lesen.
Das zeigt: Bibel will nicht aufs Wort genau genommen werden. Der Mensch ist auf Gott angewiesen, aber: er ist auch auf seine Mitmenschen angewiesen, das will die Genesis erzählen. Adam ist alleine, und das ist auf Dauer nicht gut. Gott greift ein, Adam bekommt eine Frau. Die Geschichte könnte so schön sein, gäbe es da nicht die Schlange. Sie verleitet die beiden ersten Menschen, vom verbotenen Baum des Paradieses zu essen, sie erkennen ihre eigene Nacktheit, schämen sich, werden aus dem Paradies geworfen. Die Kette menschlichen Versagens geht weiter: Adam und Eva bekommen zwei Kinder, ihr Sohn Kain aber erschlägt Abel – damit nun erscheint Mord als eine Spielart menschlichen Fehlverhaltens.
Die Menschen werden immer böser, immer schlechter und letztlich sieht Gott nur noch eine letzte Möglichkeit: Er muss die Erde zerstörten. Anfangs befand er seine Schöpfung für gut: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ (Gen 1,31) Nur wenige Kapitel später stellt sich heraus, dass dieses Urteil nun nicht mehr zutrifft. Gott zerstört die Menschheit mit einer Art Tsunami, allein Noah darf mit seiner Familie überleben, um den Fortbestand der Menschen zu sichern. Der Plan geht auf, Noah überlebt, es wird auch weiterhin Menschen geben. Dieser erste große Held der Genesis wird schließlich abgelöst durch Abraham.
Er zog aus dem Ur im Gebiet des heutigen Irak aus und wurde in Palästina durchaus freundlich aufgenommen. Das Problem: Er kann mit seiner Frau keinen Sohn bekommen. Nach langen Irrungen, schwierigen Verbindungen und einem unehelichen Kind bringt seine Frau Sara tatsächlich den ersehnten Sohn Isaak auf die Welt. Heile Familienwelt. Was folgt, mag eher an einen Horror-Roman erinnern: Abraham soll seinen Sohn Gott opfern. Er bringt Isaak auf einen Berg, bindet ihn fest, erhebt bereits das Messer, schon lässt er es niederfahren – als plötzlich ein Engel ihn daran hindert. Abraham muss den geliebten Sohn doch nicht opfern. Also doch ein kleines bisschen heile Familienwelt.
Die Dinge gehen den Weg, den sie gehen müssen. Sarah stirbt, Abraham stirbt, Isaak findet eine Frau verliebt sich in sie und bekommt zwei Söhne. Der Erstgeborene sollte – so war das damals üblich – den Segen des Vaters bekommen und sein Erbe werden. Der jüngere Sohn aber, Jakob, betrügt seinen älteren Bruder um diesen Segen. Er legt sich ein Fell um, der blinde Vater hält ihn für den älteren Sohn und segnet ihn. Esau, der eigentliche Erbe, findet das nicht so gut, Jakob muss fliehen, wird trotzdem aber zum Stammvater Israels und Vater eines der berühmtesten Helden der Heiligen Schrift: Josef.
Der kleinste Josef ist der liebste Sohn Jakobs. Seine Brüder sind deswegen neidisch auf ihn. Eines Tages werfen sie ihn kurzer Hand in einen Brunnen und verkaufen ihn anschließend an Sklavenhändler. Josef kommt nach Ägypten und wird Diener eines bedeutenden Hofbeamten des Pharaos. Sein Pech: Die Frau seines Herrn will mit ihm schlafen. Josef weigert sich, die Frau behauptet, er habe sie vergewaltigt. Josef muss ins Gefängnis, deutet dem Pharao jedoch einen Traum und wird so selbst zu einem der wichtigsten Vertrauten des Pharao. Er verwaltete die Getreidevorräte des großen Landes und schafft es so, eine große Hungersnot abzuwenden.
Während in Ägypten genügend Nahrung vorhanden ist, müssen Jakob und seine Söhne in Palästina leiden. Sie haben nichts zu essen, die Brüder ziehen nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen. Erst erkennen sie Josef nicht als ihren Bruder, dann gibt er sich ihnen zu erkennen. Die ganze Familie zieht nach Ägypten und führt ein ruhiges Leben. Happy End, so könnte man das nennen. Bald jedoch wendet sich das Blatt, die Hebräer werden zu Sklaven. Aber das ist eine andere Geschichte, die erst im zweiten Teil des Fortsetzungsromans berichtet wird: Im Buch Exodus.
Die Genesis ist ein Stück Weltliteratur. Generationen von Menschen lasen und lesen diesen Text. Auch nach tausenden von Deutungen und Interpretationen ist dieser Text noch nicht abgeschlossen. Mit wahrhaft großer Literatur wird man niemals fertig. Allein schon deshalb, weil die großen Themen der Menschheit zur Sprache kommen. Warum gibt es ihn überhaupt, den Menschen? Warum sind wir nicht immer gut, ja, bisweilen gar böse, wie Kain oder die Zeitgenossen von Noah? Alles, was eine gute Erzählung braucht, findet in der Genesis seinen Platz: Liebe und Hass, Intrigen, Erotik und letztlich auch ein gutes Ende.
Das ist der Grund, weshalb auch nicht religiöse Menschen die Bibel, besonders das Buch Genesis lesen können, ja sogar sollten. Einfach weil es gute Literatur ist. So wie Faust, die Odyssee oder Schillers Räuber.
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