Wir müssen nicht immer perfekt sein. Warum Selbstfürsorge mehr zählt als Selbstoptimierung – und wie wir lernen, wieder auf uns selbst zu hören.
„Mach‘ doch einfach, was soll schon passieren?“
Ein gut gemeinter Rat, den man nur allzu oft hört. Für Perfektionistinnen und Perfektionisten klingt es jedoch wie ein schlechter Scherz. In einer Leistungsgesellschaft wird oft suggeriert, dass es nur wenige Wege zum Erfolg gibt. Einer davon: immer mehr geben, immer besser sein, idealerweise sogar perfekt.
Wenn Freizeit plötzlich anstrengend ist
Eigentlich klingt es ja nicht so schwer – die Gedanken über die Arbeit bleiben in der Firma, die Sorgen ebenso. Aber was, wenn man genau das nicht kann? Wenn der Kopf nicht aufhört, zu arbeiten, ständig Szenarien durchspielt, Aufgaben optimiert. Wenn sogar Hobbys zur Challenge werden, weil alles perfekt sein soll.
Unbeschwertheit? Ein Fremdwort. Spätestens, wenn Freizeit sich nach Arbeit anfühlt, sollte man schleunigst die Notbremse ziehen. Übermäßiger Perfektionismus mag im Job kurz- oder mittelfristig beeindrucken, ist aber für die Psyche langfristig ein enormer Stressfaktor.
Mensch oder Maschine?
Nicht falsch verstehen, natürlich ist es toll, wenn man gewissenhaft ist und sein Bestes gibt. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass das Beste auch jeden Tag anders aussehen kann. Wir haben alle unsere eigene Geschichte immer im sprichwörtlichen Rucksack dabei. Bei manchen ist er leicht und stylisch, bei anderen schwer beladen mit Erwartungen, Erfahrungen, Verletzungen.
Wie soll man auf höchstem Niveau performen, wenn selbst der Alltag manchmal zu viel Kraft kostet und die vorhandene Energie förmlich auffrisst? Ist man wirklich ein Versager, wenn man nicht alle Aspekte seines Lebens im Griff hat und sogar noch offen darüber spricht? Nein, ganz im Gegenteil. Fehler machen uns menschlich. Und Menschlichkeit ist kein Makel, sondern unser größter Wert.
Wenn das Leben keinen Plan hat
Man spricht oft von der unbeschwerten Jugend, den grandiosen Zwanzigern, der besten Zeit des Lebens. Aber was, wenn sich diese Zeit überhaupt nicht so leicht und frei anfühlt?
Wenn die Schule endlich geschafft ist, geht die wahre Suche ja eigentlich erst richtig los. Der „Optimalfall“: die Studienwahl ist getroffen (selbstverständlich prestigeträchtig), der zukünftige Job schon fest im Visier und trotzdem ein florierendes Sozialleben. Doch die wenigsten haben mit 18 Jahren schon einen klaren Lebensentwurf. Viele tasten sich heran, zweifeln, ändern Richtungen, probieren sich aus.
Trotzdem entkommt man dem Druck nicht – spätestens beim nächsten Familienleben kommt wieder die Frage: “Erzähl mal, was machst du denn so?” Wenn man darauf keine perfekte Antwort hat, fühlt man sich schnell nicht interessant genug, nicht richtig, irgendwie verloren. Dabei ist doch genau das ein Trugschluss. Nicht irgendein Plan macht uns spannend, sondern unsere Offenheit, unser Suchen, unsere Geschichten und unser Mut, unperfekt zu sein.
Wenn der Körper streikt
Es gibt viele Faktoren, die die angebliche Perfektion ruinieren. Einer davon ist die eigene Gesundheit. Ob psychische oder physische Beschwerden, wenn der Körper nicht mehr mitmacht, ist Perfektion unmöglich. Blöderweise realisiert der eigene Verstand das allerdings gerne als Letzter. Statt Verständnis kommen Selbstvorwürfe und Fragen wie: “Warum schaffe ich das nicht mehr? Warum bekomme ich das nicht hin?”
So schwer dieser Punkt auch sein kann, es ist auch die Chance auf eine grundlegende Veränderung. Wer erkennt, dass der übertriebene Leistungsdruck, den wir uns oft selbst machen, oft völlig überfordernd und belastend ist, kann neue Wege gehen. Wege, die nicht auf Selbstoptimierung, sondern auf Selbstfürsorge basieren.
Zurück zu sich selbst
Die gute Nachricht: Man kann lernen, wieder ins Reine mit sich selbst zu kommen. Eine Reise in sein Inneres machen und Ungeahntes wiederfinden. Wir alle haben eine Kraft und Motivation in uns, die manchmal im Perfektionismus verloren geht. Tief drinnen gibt es eine anfangs noch leise Stimme, die weiß, was uns antreibt und uns glücklich macht. Sie kennt unsere Sehnsüchte, unsere Werte, unsere ganz persönliche Vorstellung von Erfolg.
Vielleicht ist Perfektion gar nicht das Ziel – vielleicht reicht es, ehrlich mit sich selbst zu sein. Vielleicht ist der Moment, in dem wir uns selbst erlauben, unperfekt zu sein, der Anfang von einem echten und erfüllten Leben.
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