Anni ist 16. Sie ist mehrfache deutsche Meisterin in verschiedenen Disziplinen der Leichtathletik. Und sie sitzt im Rollstuhl. Wie sie und andere Menschen mit Behinderung es geschafft haben, sportliche Spitzenleistungen zu erbringen, erfahrt ihr hier.
Ihre Armbewegung ist präzise. Der Blick konzentriert. Selbst ein Laie erkennt, dass das Mädchen da vorne weiß, was sie macht. Anni holt aus und stößt die Kugel von sich weg. 7,50 Meter. Damit hat sie sich selbst übertroffen. „Das hatte ich so nicht erwartet“, grinst sie aus ihrem Rollstuhl. Richtig laufen konnte Anna-Katharina Nickels, genannt Anni, noch nie. „Wir hätten nicht gedacht, dass aus ihr eine Hochleistungssportlerin wird, als sie damals querschnittsgelähmt zur Welt kam“, sagen ihre Eltern. Jeden Samstag fahren sie mit der Schülerin aus der Eifel ins Saarland, denn dort gibt es für sie das beste Training. Heute werden hier die Deutschen Behinderten-Meisterschaften in der Leichtathletik ausgetragen. In unregelmäßigen Abständen zischen Rennrollis über die Laufbahn. Es finden (Stand-)Weitsprung, Hochsprung und Kugelstoßen statt. Nach Anni sind jetzt die Senioren dran. Auf dem Fußboden um den Wurfbereich herum liegen überall halbe Beine mit einem Teint, für den so manche Frau alles geben würde. Eins von diesen halben Beinen gehört Franz Hager. Fürs Kugelstoßen will er eine Spezialprothese anziehen; eine Stange mit einem runden Stand unten. Bei einem Mopedunfall hat der 59-Jährige den unteren Teil seines linken Beins verloren. Damals war er 17.
Auf beiden Beinen stehen
Außerhalb der orangenen Laufbahn stehen Fans, Freunde und Angehörige der Sportler. Dafür, dass hier gerade eine Deutsche Leichtathletikmeisterschaft stattfindet, sind nicht viele Interessierte gekommen. Hager schiebt das auch darauf, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland noch nicht so akzeptiert werden, wie sie sollten. „Das Problem ist, wie die Gesellschaft mit Behinderungen umgeht.“ Vielen Nichtbehinderten fehle oft das Einfühlungsvermögen für die Situation von Menschen mit einem Handicap. Der Landesfachwart Wolfgang Blöchle hat sich darum oft selbst in den Rollstuhl gesetzt. Er wollte genau wissen, wie es sich anfühlt, nicht laufen zu können, als er gebeten wurde, Landestrainer der Rollstuhl-Leichtathletik am Paralympischen Trainingsstützpunkt in Saarbrücken zu werden.
Blöchle ist bereits seit Jahren im Behindertensport engagiert. Er bewundert die Athleten. „Die größte Hürde im Behindertensport ist der Kampf gegen den eigenen Körper“, sagt er. Die Sportler müssen gegenüber sich selbst radikal sein, um Leistung zu zeigen. Dabei lernen sie nicht nur körperliche Hürden zu nehmen, sondern sind auch gewappnet für gesellschaftliche Hindernisse und politische Barrieren: „Sie sind enorm durchsetzungsfähig und resistent – das lernen sie beim Sport“, weiß Blöchle aus Erfahrung. Als Trainer hat er täglich mit den Behinderten zu tun. Auch nach Rückschlägen motiviert er die Sportler dranzubleiben. Aufgeben ist keine Option. „Manchmal werde ich auch motzig und muss mit dem einen oder anderen schimpfen“, erzählt er. Kein Wunder, denn die Athleten haben einen festen Charakter. „Den brauchen sie auch“, kommentiert Blöchle. Denn trotz Gleichberechtigungsparolen haben behinderte Senioren keinen leichten Stand in Deutschland. Für manche ist schon der Alltag so anstrengend wie eine deutsche Meisterschaft. Blöchle weiß, dass seine Sportler oft den Ellenbogen einsetzen müssen, um etwas zu erreichen; egal, ob der noch natürlich ist oder eine Prothese.
Früh übt sich
Spätestens ab dem 40. Geburtstag ist man im Sport ein Senior. Davon ist Anni noch weit entfernt, aber ihre älteren Kollegen zeigen mit Stolz auf sie und nennen die 16-Jährige eine Nachwuchshoffnung. Die Leistungen der Senioren hat sie im Blick, sie spornen das Mädchen an. Ihr nächstes Ziel sind die Paralympics 2020 in Tokio. Über solche Ambitionen freuen sich wiederum die Senioren; zum Beispiel Friedrich Kampmann. Der Südwestfale, der aufgrund einer Krankheit vor fast 50 Jahren so gut wie gehörlos ist und mit Anfang 30 bei einem Arbeitsunfall ein halbes Bein verlor, ist begeisterter Jugendtrainer. Er weiß, wie es den behinderten Jugendlichen geht, kann sich in sie hineinversetzen und will dadurch Vorbild sein für junge Menschen mit Behinderung. Heute ist er 67, seit mehr als drei Jahrzehnten Hochleistungssportler, hat deutsche Rekorde im Kugelstoßen aufgestellt, ist internationaler Kampfrichter, entwickelt Beinprothesen, hält Vorträge in Sportschulen und Universitäten und ist politisch wie sozial engagiert. Immer an seiner Seite: Frau Dagmar Kampmann. Als sie von seinem Unfall erfuhr, graute ihr davor, ihren Mann im Krankenhaus zu besuchen: „Ich hatte Angst, dass er jammern würde und wusste nicht, was ich ihm hätte sagen sollen.“ Aber es kam anders. Das erste, was Dagmar Kampmann auffiel, als sie die Tür zum Krankenzimmer öffnete, war die eisern geballte Faust ihres Mannes. „Weißte was? Jetzt geht’s nur noch voran!“, kündigte ihr mehrfachbehinderter Mann an. Und hielt sich daran.
„Ich hatte damals zwei Möglichkeiten: meine Koffer packen und gehen, oder nicht“, beschreibt sie die Zeit nach dem Arbeitsunfall ihres Mannes. Auch wenn sie seitdem immer mal wieder mit gepackten Koffern vor Friedrich Kampmann gestanden hat, bereut sie ihre Entscheidung nicht. „Wir haben letztlich immer zusammengehalten.“ Allen Mühen zum Trotz stärkt sie ihm noch heute den Rücken: Sie ist sein Ohr, wenn er mit Fremden spricht, bei denen ihm das Lippenlesen noch schwer fällt, begleitet den Profisportler zu Turnieren und Wettkämpfen im ganzen Land und fliegt mit ihm um die Welt, zum Beispiel zu den Paralympischen Spielen nach Peking oder Sydney. „Immer wenn eine Veranstaltung vorbei ist und wir nach Hause fahren wollen, dann sieht er mich an und sagt, dass er sich bei mir bedanken möchte“, erzählt sie und lächelt dabei ein bisschen. Dagmar Kampmann ist eine schicke Frau. Ihr grau meliertes Haar hat einen stylischen Kurzschnitt, ihre Finger sind glänzend rot lackiert und tragen glitzernde Ringe. „Mein Mann hat mir ungefragt alles gekauft, was ich wollte. Ohne mit der Wimper zu zucken. So gesehen hat es mir an nichts gefehlt.“
Schreibe einen Kommentar