Ein bis zwei von 100 Menschen erkranken laut neuester Statistiken während ihres Lebens an Bulimie. Vor Jahren habe ich ähnliche Zahlen bereits in einer Dokumentation über Essstörungen in Kliniken gehört und nicht verstanden, wieso junge Frauen weinend über ihrem Essen sitzen und jeden Bissen herunterwürgen, als wäre es purer Schimmel. Gleichzeitig haben sie mir unfassbar Leid getan. Tja, jetzt bin ich eine von ihnen. Doch das will ich nicht bleiben. Also kämpfe ich dagegen an.

Zwei Brötchen und 30 Fettpunkte, die ich zum Abendessen essen muss und mir aus verschiedenen Produkten zusammen suchen kann, liegen auf dem Teller vor mir. In meinem Fall sind das zwei Scheiben Käse, ein Stück Butter, ein Glas Milch und eine ganze Menge Körner, um irgendwie auf die verlangte Menge zu kommen und die Brötchen nicht noch dicker belegen zu müssen. Tränen steigen mir in die Augen, als ich begreife, dass das alles in meinen Bauch muss und vor allem nicht ausgebrochen werden darf. Meine Hand zittert leicht und mir wird nach der Hälfte schon kotzübel. Ich bin noch keine zwei Stunden in der Klinik und würde schon am liebsten abbrechen. Gestern noch dachte ich, dass ich die verlangten Portionen bestimmt ohne große Probleme schaffe. Pustekuchen. Stattdessen muss ich mir eingestehen, dass mich meine Krankheit wesentlich mehr beherrscht als ich gerne hätte.
„Brich doch einfach nicht“
Bulimie bedeutet, sich den Finger in den Hals zu stecken und loszubrechen. Das denken viele. Wäre die Krankheit nur das, wäre der Kampf dagegen wohl um einiges einfacher. Leider ist sie viel mehr. Der Ratschlag, einfach nicht zu brechen, ist also alles andere als hilfreich. Natürlich sind Fressattacken und Brechen ein großer Teil der Krankheit. Mindestens genauso kritisch sind aber die Begleiterscheinungen: Isolation, Angst und Zwangsstörungen, Verlustängste, ein geringer Selbstwert.
Eine Krankheit im Verborgenen
Die Liste könnte ich noch beliebig weiterführen. Stattdessen schaue ich mir meine Mitpatienten näher an und erfahre etwas über sie. Eine Ärztin, zwei Psychologiestudentinnen, eine Architektin, eine Bauingenieurin und ich mittendrin. Der Hälfte sieht man ihre Krankheit nicht an. Genau das ist oftmals das Problem. Im Gegensatz zu an Magersucht erkrankten Menschen sind Bulimiker oftmals normalgewichtig und halten nach außen eine perfekte Fassade aufrecht. Gepflegtes und sicheres Äußeres, toller Job oder super Noten in der Uni: Es wirkt, als hätten sie das Leben im Griff. Was heimlich auf der Toilette passiert, ahnt kaum einer. Eine Krankheit im Verborgenen. Genau das ist Bulimie.
Schäden an Organen und an der Speiseröhre, schlechte Zähne … die Folgen von Bulimie sind unschön und gefühlt endlos. Doch die kann jeder googeln und in wissenschaftlichen Büchern nachlesen. Allerdings habe ich vorher keinen Text gefunden, der mir erklärt, wie sehr ich hier leiden würde. Ich bin noch nicht lange da und schon habe ich öfters daran gedacht, den Aufenthalt hier abzubrechen, als ich in all den Jahren in Erwägung gezogen habe, in eine Klinik zu gehen.
Bloß nicht Brechen
Neun Jahre begleitet mich diese Krankheit nun. Viele Jahre Versteckspiel und zweieinhalb Jahre ambulante Therapie später, sitze ich nun immer noch an diesem Esstisch und versuche, mein Essen herunterzuschlucken. 30 Minuten Zeit haben alle Patienten für die vorgegebene Portion. Wer sie nicht schafft, muss zwei Portionen einer Art Astronautennahrung zu sich nehmen, die getrunken werden kann. Wird das halbe Essen aufgegessen, muss eine Portion getrunken werden. Nachdem ich mit viel Zusammenreißen beide Brötchen geschafft habe, würge ich die Körner mit der Milch herunter. Tränen laufen mir über die Wangen und ich möchte mich nur noch unter meiner Bettdecke verkriechen. Das Ganze auszubrechen wäre zugegeben noch schöner, aber genau das darf ich natürlich nicht tun. Mit letzter Kraft schleppe ich mich in mein Zimmer. Im Gegensatz zu den vielen anderen Kliniken habe ich hier ein eigenes Bad. Fast im Minutentakt wandert mein Blick zur Toilettentür. Brechen oder nicht? Mit aller Macht zwinge ich mich dazu, dem Druck nicht nachzugeben und weine die nächsten fünf Stunden wie ein Baby durch. Von der selbstsicheren Studentin, die ihren Abschluss gerade mit herausragenden Noten bestanden hat und immer zu einem Witz aufgelegt ist, ist gerade nicht viel übrig.
Stattdessen ist das Kissen unter mir tränendurchweicht und der innere Wunsch, einfach nach Hause zu fahren, wird immer stärker. Anstatt ihm nachzugeben, fange ich an, meinen Koffer auszupacken und mir mein Zimmer wohnlicher einzurichten. Nachdem ich meine Fotos aufgestellt habe, geht es mir schon ein bisschen besser. Sie haben mich daran erinnert, warum ich hier bin. Natürlich muss ich in erster Linie für mich gesund werden. Dennoch weiß ich auch, wie viele Hoffnungen mein Umfeld in diese Klinik setzt.
Wenn das Spiegelbild Angst macht
Seitdem die Katze einmal aus dem Sack gelassen wurde und alle wissen, was mit mir los ist, sind die sorgenden Blicke von Freuden und Familie mein ständiger Begleiter. Das Schlimme an Bulimie ist für Andere nicht nur das Brechen, sondern vor allem auch die wesensändernden Begleiterscheinungen, die mit der Krankheit einhergehen. Manche Erkrankte stoßen alle Leute von sich weg, andere wiederum klammern ganz schlimm aus Verlustängsten. Um ehrlich zu sein, weiß ich manchmal selbst schon nicht mehr, welche Eigenschaften und Charaktereigenschaften eigentlich ich bin und welche die Bulimie. Auch die Frau im Spiegel, die ich gerade sehe, erkenne ich nur zum Teil wieder. Die Albträume der letzten Wochen haben ihre Spuren in Form von Augenringen hinterlassen. Das Abnehmen wird durch das deutliche Erkennen meiner Wangenknochen unübersehbar. Auch meine Gesichtsfarbe ist eher ungesund als frisch. Ein Grund mehr, um endlich gesund zu werden. Oder zumindest gesünder.
Bereits morgen beginnt das volle Programm. Einzeltherapie, Gruppentherapie, Ergotherapie, Yoga, Pilates und vieles mehr. In diesem Moment weiß ich nicht mal, wie ich meine Füße dazu bekommen soll, mich ins Bad zum Zähneputzen zu bringen. Geschweige denn die nächste Zeit Sport zu machen. Mein Körper ist schwer wie Blei und ich habe das Gefühl, durch die zwei Brötchen schon Speckfalten bekommen zu haben. Natürlich weiß mein Verstand, dass das nicht sein kann. Die Krankheit versucht mich trotzdem vom Gegenteil zu überzeugen.
Der Freak in mir
Mir wird immer stärker bewusst, dass sich die nächsten Wochen zu einem reinen Kampf entwickeln werden. Nichtsdestotrotz ist Aufgeben keine Option. Ich will gesund werden. Für mich, aber auch für andere, und vor allem will ich dazu beitragen, Unbeteiligten die Krankheit näher zu bringen. Warum mir das so wichtig ist? Depressionen, Magersucht, Bulimie: Sobald jemand zugibt, an einer dieser Krankheiten erkrankt zu sein, wird er oftmals als Freak abgestempelt und genau das ist der Grund, warum die Dunkelziffern dieser Krankheiten viel höher über den erfassten Werten liegen. Erkrankte trauen sich nicht, offen zu ihrer Krankheit zu stehen, weil sie Angst haben, als Freak abgestempelt zu werden und genau deswegen möchte ich Euch auf meinen Weg mitnehmen. Auch wenn er schwer und holprig wird.
Fragen oder Anregungen können gerne als Kommentar unter den Artikel gepostet werden.
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