Wenn mich jemand fragt, wie wir denn in einem Kriegsland leben können, bin ich immer schnell dabei, die Person zu beruhigen und zu bestätigen, dass wir ja im Westen der Ukraine leben, weit weg von der Front, weit weg vom Kriegsgeschehen. Doch wenn ich selbst wieder bewusst über unseren Alltag nachdenke, dann merke ich, dass diese Antwort viel zu leicht dahin gesagt ist. Und wenn die Person bereit ist für mehr als nur Smalltalk, mehr als ein „Danke, alles gut“, dann erzähle ich ihr vielleicht von den folgenden, ganz alltäglichen Begebenheiten:
Alarm in der KiTa
Unsere dreijährige Nachbarin ist frisch fertig mit der Eingewöhnung im Kindergarten und spielt ihre Erlebnisse mit Puppen zuhause nach. Gerade hat sie alle Puppen ruhig zum Mittagsschlaf hingelegt. Plötzlich schüttelt sie sie und ruft in einem harschen Ton: „Nastja, Ivanka, aufwachen, aufstehen, es ist Luftalarm. Na los, wir müssen in den Keller. Steht auf!“
Papa im Krieg
Wir picknicken am See. Ein kleines Mädchen kommt zu uns mit auf die Decke, spielt ein bisschen mit den älteren Kindern und bestaunt unser Baby. Die Mama kommt dazu und entschuldigt sich für ihr aufdringliches Verhalten. Sie wünsche sich so sehr ein kleines Geschwisterchen. „Ja, Vika, ich weiß, du wünschst dir auch einen Babybruder. Wenn der Krieg vorbei ist und der Papa wiederkommt, bekommst du ein Brüderchen.“
Nur ein Kampfflugzeug…
Die Kinder spielen auf dem Spielplatz. Plötzlich ertönt die Sirene. Schnell zücken alle ihre Handys und ein Zehnjähriger ruft beruhigt: „Ach, in Russland ist nur ein Kampfflugzeug abgehoben, wir haben noch mindestens 20 Minuten Zeit.“ – „Ja, aber falls sie schreiben, dass Raketengefahr besteht, muss ich sofort nach Hause, hat meine Mama gesagt.“ Neben der speziellen Alarm-App gibt es nun auch Telegram-Kanäle, wo man nachlesen kann, warum eigentlich Alarm ist.
Tanzstunde und Luftalarm
Vor der ersten Trainingsstunde im Tanzverein werden die Eltern zur allgemeinen Belehrung mit in den Saal gerufen. Neben den gewöhnlichen Informationen über Fehlstunden, Bezahlung und den richtigen Tanzschuhen gehört nun auch die Aufklärung über das Verhalten bei Luftalarm mit dazu. Und während ich auf meine Große warte und die anderen Eltern über die geplante Tanzaufführung vor Weihnachten reden, lese ich am Schwarzen Brett über das richtige Verhalten, falls man einen Sprengkörper oder sonstiges Explosives findet.
Gute und schlechte Soldaten
Wir stehen an der Kasse im Supermarkt. Vor uns steht ein Mann im Tarnanzug. „Mama, warum hat der denn so komische Sachen an?“ – „Das ist ein Soldat.“ – „Oh, so wie bei David und Goliath? Aber ist es ein guter oder ein böser Soldat?“ – „Das ist ein ukrainischer Soldat, der gehört zu den Guten.“ -„Und gibt es auch böse Soldaten? Wo sind die?“ Da sind wir schon an der Reihe, zu bezahlen und werden von der Kassiererin unterbrochen.
Bergpanorama mit Sirenensignalen
Zum Kurzurlaub sind wir mit Freunden in den Bergen. Morgens sitzen wir auf der Terrasse des Hotels und genießen unseren Kaffee mit Bergpanorama. Plötzlich geht die Sirene los. Unsere Freundin erinnert sich: „In den ersten Tagen des Krieges haben wir uns bei Luftalarm immer im Flur versteckt. Ich hatte sogar Angst, zum Fenster zu schauen, aus Furcht, es würde vor mir zersplittern. Und jetzt sitze ich hier mit der Kaffeetasse in der Hand und hoffe nur, dass die Lautsprecherdurchsage bald vorbei ist und wir uns wieder in Ruhe unterhalten können.“
Kein Hausbau ohne Luftschutzkeller
Endlich beginnt der Herbst. Beim Smalltalk mit der Sekretärin kommen wir auf die Pläne für die nächsten Monate zu sprechen. Ob es wohl wieder gezielte Angriffe auf die Infrastruktur geben wird, und es dadurch zu Stromabschaltungen kommt? „Ach, uns macht nichts mehr Angst. Den Winter schaffen wir auch noch. Wie der Generator funktioniert, wissen wir ja schon. Übrigens, ihr baut doch ein Haus. Habt ihr eigentlich einen Luftschutzkeller mit auf dem Bauplan?“
Ruhig schlafen in Kriegszeiten?
In der Nacht werde ich wach, weil es draußen laut rauscht. Weit entfernt, aber sehr laut. Im Halbschlaf wundere ich mich, seit wann wir denn die Umgehungsstraße so laut hören, zumal ja eigentlich Sperrstunde ist und niemand unterwegs sein darf. Am nächsten Morgen erhalte ich eine WhatsApp von meinen Eltern aus Deutschland, ob denn alles in Ordnung sei? Und da sehe ich die Nachrichten: Drohnenangriff auf Lviv. In der nächsten Nacht ist alles ruhig.
Ständig unter Strom
Als mein Mann 14 Monate nach Kriegsbeginn zum ersten Mal aus der Ukraine ausreiste, fühlte er sich innerlich irgendwie unruhig, obwohl er davor sehr viel und gern im Ausland unterwegs war. Als er zurückkam, reflektierte er: „Wir sind hier sind alle irgendwie die ganze Zeit im Ausnahmezustand, ständig unter Strom. Aber wir merken es nicht mehr bewusst, weil wir ja trotzdem funktionieren müssen, leben wollen. Aber im Ausland habe ich gemerkt, wie sehr uns das alles verrückt macht, im wahrsten Sinne des Wortes. Nach Kriegsende müssen wir alle wieder zu einem neuen Normal finden, egal, ob wir an der Front waren oder nicht.“
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