Im ersten Teil berichtet die Autorin, wie man einem seelisch notleidenden Menschen begegnen kann. Im zweiten Teil geht es noch mehr um praktische Umsetzungsmöglichkeiten.
Um alles, was es zu bewahren galt: Behüte dein Herz!
Wenn du seelisch gestrandete Menschen um dich hast, die beinahe nur noch verzweifelte Phrasen von sich geben, dann versuche, dein Inneres zu bewahren. Jede Interaktion mit anderen Menschen und jedes Gespräch lösen eine Reaktion bei dir aus. Versuche, dich gut zu schützen. Lass dich von depressivem Gedankengut nicht „anstecken“ oder herunterziehen. Ich weiß selbst, wie hoch die Gefahr ist.
Bevor du selbst ungehalten wirst und es kaum mehr ertragen kannst, immer nur Depressives zu hören, nimm dich aus der Situation heraus. Auch, wenn du die Empfindung hast, dass es nur noch um den Anderen geht und du zu kurz kommst. Sorge selbst gut für dich!
Klare Abmachungen treffen und einhalten
Versuche, mit der notleidenden Person klare Zeiträume zu schaffen, in denen ihr zum Beispiel über Depressives reden könnt, aber auch Auszeiten schafft, in denen es um anderes geht. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich meine Mutter immer volltextete mit depressiven Gedanken oder Themen über Essstörungen, Borderline und Co. Mich machte es wütend, wenn sie nichts dazu sagte. Im Nachhinein wusste ich oft selbst nicht, was ich eigentlich hören wollte. Wahrscheinlich hätte sie nur Falsches sagen können.
Wenn dein Kind als Betroffener schon erwachsen ist, dann behandle es wie einen Erwachsenen. Dränge es nicht zurück in die Kindsrolle. Setze deinem Kind nach wie vor Grenzen und mache ihm bewusst, dass es für sein Handeln die Konsequenzen trägt. Die Depression ist kein Freifahrtschein, dass ich alles machen kann, was ich will. Das habe ich öfters verwechselt, denn ich wollte die Verantwortung für mein Leben nicht tragen, weil es nicht so war, wie ich es wollte. Hätten andere dann die Verantwortung für mich übernommen, hätte ich noch mehr Rückschritte gemacht.
Kleine, gemeinsame Aktivitäten planen
Ich empfand es als sehr angenehm, wenn mich einzelne Leute einluden, nur zu zweit zu sein. Ich erinnere mich an eine engagierte Frau, mit der ich Weihnachtskarten basteln durfte. Sie wusste, dass ich das immer gerne gemacht hatte und so wollte sie mir eine Freude bereiten. Nur, weil ich etwas davor gerne gemacht hatte, hieß das nicht, dass ich es zu dieser Zeit auch noch gerne tat.
Aber es gefiel mit tatsächlich. Diese Frau nahm mich, wie ich war. Ich konnte kaum die Schneidemaschine bedienen, weil ich zu müde und gedanklich eingeschränkt war, sodass ich nicht verstand, wie ich sie einstellen musste. Außerdem hatte ich noch öfters Ängste und Panikattacken und musste plötzlich nachschauen, ob mein Schlüssel noch in der Tasche war. Die Frau sagte nicht: „Das hast du doch früher nicht gemacht!“ Sie akzeptierte mich, so wie ich war.
Gemeinsam das Leid überwinden
Gegen die Nebenwirkungen der eingenommenen Medikamente überlegte ich mir kognitive Spiele. So wollte ich meine Gedankenarmut bekämpfen und gab mir Begriffe, zu denen ich alles Assoziierte aufschrieb. Jedes Mal ein wenig mehr. Und ich spielte mit meiner Mutter Spiele, wie Suchspiele, Zählspiele, Rechenspiele etc. Ich war so dankbar, wenn sich jemand mir annahm und mit mir spielte und mich herausforderte.
Und gleichzeitig hatte ich auch oft Ängste, dass jemand bemerken könnte, wie kognitiv eingeschränkt ich war. Deshalb wehrte ich mich manchmal gegen die kognitiven Übungen. Aber da motivierte mich meine Mutter: „Doch wir machen das jetzt.“ Das hat mir geholfen, weiterzumachen. Die Stärke des Anderen half mir in meiner Schwachheit.
Nimmst du mich auch als Eisschrank an?
Größtenteils fühlte ich mich leer und konnte Emotionen gar nicht wahrnehmen oder zeigen. Oft sah ich wie eine graue Mauer aus. Einmal hatte eine Frau in einer Gruppentherapie eine traurige Geschichte aus ihrer Kindheit erzählt und ich starrte nur vor mich hin und konnte nichts fühlen. Ich konnte keine Empathie mehr ausdrücken. Und auch hier empfing ich von Menschen Verständnis mit den Worten: „Es ist okay. Du erlebst gerade eine schwere Krise und kannst kaum Emotionen wahrnehmen. Nicht mal deine eigenen, da musst du nicht meine wahrnehmen können. Irgendwann wirst du wieder mehr empfinden können. Der Tag wird kommen.“
Zeige mir, wie du selbst lebst
Es half mir, andere Menschen zu beobachten, wie sie mit ihren Problemen umgingen und ich schaute zahlreiche Videos an mit derartigen Berichten. Ich konnte nicht viel unter Menschen gehen. Daher nahm ich das digitale Angebot wahr. Danke für die offenen und mutigen Menschen, die über die sozialen Medien berichten und ihre Geschichte teilen!
Mit den eigenen Wunden plötzlich konfrontiert sein
Heute verstehe ich mehr, was es bedeutet, dem Weinenden als Weinenden zu begegnen und ein Licht in die Finsternis zu bringen. Wir wollen eigentlich nicht mit Schmerzen konfrontiert werden. Es kann kräftezehrend sein, die Last des Anderen mitzutragen, vor allem, wenn unsere eigene Kraftquelle begrenzt und ausgetrocknet ist. Wir stoßen an eigene Grenzen. Vielleicht werden uns eigene Wunden durch das Verhalten des Leidenden gespiegelt und wir befinden uns plötzlich selbst in einer größeren Baustelle und brauchen (professionelle) Hilfe.
Warum kann es nicht mehr wie früher sein?
Wenn du der Freund eines Betroffenen bist, dann geht es dir bestimmt nicht gut mit dem Gedanken, dass dein Freund gerade krank ist. Vielleicht fühlst du dich verletzt und sehnst dich nach alten Zeiten, nach einem leichteren Leben eben. Vielleicht möchtest du deinen Freund aber auch auf seiner Reise begleiten. Vielleicht denkt ihr gemeinsam über das Leben nach und findet Antworten. Eine enge Freundin hat mit mir mal meinen ganzen Lebensverlauf aufgeschrieben und wir versuchten gemeinsam, eine Struktur zu finden. Vielleicht möchtest du aber auch praktisch deinem Freund helfen und ihr räumt gemeinsam mal die Wohnung auf und findet neue Ordnungs- und Strukturtipps.
Einer muss doch schuld daran sein!
Bei uns kam in der Familie öfters die Schuldfrage hoch. Wer war schuld, dass es mir als Betroffener schlecht ging? Das erzeugte ein niedergedrücktes und oft im Streit endendes Chaos. Später, als es mir besser ging, konnte ich abstrahierter und distanzierter darüber nachdenken, in welcher Familienkonstellation ich groß wurde, ohne jemanden für sein Verhalten zu beschuldigen.
Bitte nimm mich an, wie ich gerade bin
Ich habe es als sehr unangenehm empfunden, wenn mir mein Umfeld kritisch begegnet ist, als es mir schlecht ging. Folgende Sätze haben mich meistens eher verstört zurückgelassen: Geht es dir heute immer noch nicht besser? Hast du deine Haare immer noch nicht gewaschen? Was sagt denn eigentlich dein Therapeut dazu? Warum verhältst du dich jetzt so komisch, vorher warst du doch noch normal? Hast du deine Medikamente auch eingenommen? Warum verhältst du dich so kindisch?
Es kann in so einer Ausnahmesituation auch passieren, dass sich jemand komplett die Haare abschneidet, Stimmen hört, sich verfolgt fühlt oder anderes, ungewohntes Verhalten zeigt. Dann begegne der Person bitte trotzdem respektvoll und vermeide Sätze wie: „Was ist denn mit deinen Haaren passiert?“ Als Betroffene hat man eh mehr als einmal das Gefühl, verrückt zu sein oder zu werden, da versetzt einen ein aufgescheuchtes Umfeld noch mehr in Panik. Ja, du wirst deine Toleranzgrenze erweitern müssen, wenn du mit seelisch Notleidenden zusammen bist.
Worüber ich mich sonst noch freute
Ich freute mich über ein kleines Geschenk, eine Karte, etwas Gebackenes vor meiner Tür, über ein Hörbuch oder einen Gedanken, ein Bild oder was auch immer. Letztlich war ich immer dankbar, wenn ich ein offenes Ohr geschenkt bekam und eine helfende Hand und einen Mund, der auch mal schwieg und mit mir trauerte.
Meine eigene Erkenntnis als Helferin
Ich erkannte später bei mir selbst, wenn ich anderen Menschen helfen wollte, dass ich aus meinen eigenen Ängsten heraus sprach. So versuchte ich, dem notleidenden Menschen beizubringen, was ich dachte, was ihm helfen konnte. Dabei wiederholte ich meine Tipps und Gedanken und ließ dem anderen keine eigene Entscheidungsfreiheit. Das empfand ich als sehr anstrengen. Und so befasste ich mich zuerst mit meinen eigenen Ängsten und versuchte, für mich eine Klarheit zu schaffen, um überhaupt meinen Mitmenschen begegnen zu können. Ich kann dir nur empfehlen: Lass deine Schablonen in deiner Schublade. Wir Menschen sind zu individuell und an verschiedenen Lebenspunkten, als dass wir immer am besten wüssten, was dem anderen helfen könnte.
In Summe ist es eine demütige Aufgabe, einem seelisch erkrankten Menschen zu begegnen und ihn begleiten zu dürfen. Man braucht ein Fass voll Geduld, ein Übermaß an Liebe und Annahme, eine ausreichende Erkenntnis über sein eigenes Leben und die Bereitschaft, mutig seine eigenen Baustellen anzugehen.
Mögliche Hilfsangebote findest du bei der bundesweiten Telefonseelsorge (0800 – 1110111 oder 0800 – 1110222), beim Haus- oder Facharzt, in psychologischen Beratungsstellen bei dir vor Ort, in Kliniken mit psychiatrischer Abteilung, bei Ex-In-Genesungsbegleitern oder in Selbsthilfegruppen. Bei akuter Lebensgefahr lautet die Nummer 112 für den Rettungswagen.
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