Die Diskussion um den Schutz menschlichen Lebens – insbesondere des ungeborenen – hat in Deutschland im Jahr 2025 eine neue Dynamik erfahren. Während einerseits Befürworter einer weitgehenden Liberalisierung des Abtreibungsrechts verstärkt Gehör finden, betonen andere Stimmen die verfassungsrechtlich verankerte Schutzpflicht des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben. Der Diskurs verläuft zunehmend kontrovers und berührt Grundfragen der Menschenwürde, der Rechtsfähigkeit sowie der gesellschaftlichen Verantwortung für Menschen mit Behinderungen. Ein Kommentar.
Besonders deutlich wurde dies im Zusammenhang mit der Kandidatur der Juristin Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf für das Amt einer Richterin am Bundesverfassungsgericht. Ihre wissenschaftlichen Äußerungen zur Reichweite des Menschenwürdeschutzes lösten erhebliche Diskussionen aus, die schließlich dazu führten, dass ihre Wahl im Bundestag nicht erfolgte. Dieses Ereignis hat die grundsätzliche Frage nach dem Stellenwert des Lebensschutzes im deutschen Verfassungsstaat erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
Lebensschutz als verfassungsrechtliche Verpflichtung
Die Grundlage für die Debatte bildet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Bereits im Urteil von 1993 zum Thema Schwangerschaftsabbruch stellte das Gericht klar, dass das ungeborene Leben Träger eigener Menschenwürde ist und der Staat deshalb eine Schutzpflicht hat. Diese Verpflichtung ergibt sich aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) sowie aus Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz, der das Recht auf Leben garantiert.
Das Gericht formulierte unmissverständlich: Der Staat darf sich nicht darauf beschränken, das Lebensrecht lediglich formal anzuerkennen. Vielmehr ist er verpflichtet, dieses auch durch geeignete Maßnahmen aktiv zu schützen. Diese Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben gilt unabhängig von dessen Entwicklungsstadium.
Vor diesem Hintergrund erscheinen wissenschaftliche Positionen, die eine Relativierung des Menschenwürdeschutzes vertreten, hoch relevant. In einer juristischen Veröffentlichung führte Brosius-Gersdorf aus, die Auffassung, dass Menschenwürde automatisch überall dort gelte, wo menschliches Leben existiere, sei ein „biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“. Kritiker sehen darin eine Abkehr von der bisherigen Verfassungsinterpretation und befürchten eine Schwächung der Schutzgarantie des ungeborenen Lebens.
Spannungsfeld: Menschenwürde, Rechtsfähigkeit und Abwehrrechte
Das deutsche Recht unterscheidet zwischen Rechtsfähigkeit und dem verfassungsrechtlichen Lebensschutz. Während § 1 BGB klarstellt, dass die Rechtsfähigkeit mit Vollendung der Geburt beginnt, leitet das Bundesverfassungsgericht den Schutz der Menschenwürde und des Lebensrechts auch für Ungeborene ab.
Diese Differenzierung führt regelmäßig zu Spannungen in der Debatte. Befürworter einer Ausweitung der Selbstbestimmungsrechte der Frau verweisen auf die zivilrechtliche Definition der Rechtsfähigkeit und argumentieren, dass vorgeburtliches Leben nicht denselben Status wie geborene Personen haben könne. Lebensschutz-orientierte Juristen und Ethiker betonen dagegen, dass die Menschenwürde nicht von der zivilrechtlichen Rechtsfähigkeit abhängt, sondern jedem Menschen – auch dem ungeborenen – zukommt.
Besonders problematisch wird dies im Kontext von Behinderung und pränataler Diagnostik. In Deutschland endet ein hoher Anteil von Schwangerschaften, bei denen das Kind mit Trisomie 21 diagnostiziert wurde, in einem Abbruch. Statistiken zeigen, dass etwa neun von zehn ungeborenen Kindern mit dieser Diagnose nicht zur Welt kommen. Diese Praxis wirft schwerwiegende Fragen auf: Wird damit nicht eine faktische Diskriminierung vorgenommen, die im Widerspruch zu Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“) steht?
Hinzu kommt, dass die Forschung stetig neue pränatale Testverfahren hervorbringt. Bereits 2013 wurde in Australien ein Fall bekannt, in dem ein Kind aufgrund des Verdachts auf Autismus abgetrieben wurde .Autismus kann aufgrund eines bisher unzuverlässigen Verfahren zur Analyse chromosomaler Mikrodeletionen bereits im Mutterleib erkannt werden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis dieses Verfahren auch in Deutschland zugelassen wird.
Der Fall Brosius-Gersdorf als Prüfstein
Die Kandidatur von Frauke Brosius-Gersdorf für das Amt am Bundesverfassungsgericht wurde in diesem Spannungsfeld zum Politikum. Ihre frühere Mitwirkung in der „Koalition für reproduktive Selbstbestimmung“ sowie ihre publizierten Positionen wurden von Lebensschutz-Organisationen und Teilen der Politik kritisch bewertet.
Der Vorwurf: Mit einer Richterin, die die Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens relativiere, könnte die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts revidiert oder abgeschwächt werden. Insbesondere die Verpflichtung des Staates, auch ungeborenes Leben aktiv zu schützen, stand auf dem Prüfstand.
Die öffentliche Debatte erreichte ihren Höhepunkt, als die Wahl im Bundestag im Juli 2025 abgesagt wurde. Während Kritiker dies als eine Kampagne gegen die Kandidatin interpretierten, betonten andere Stimmen, dass es sich um einen legitimen Ausdruck verfassungsrechtlicher Bedenken handle. Zweifel an der fachlichen Eignung einer Verfassungsrichterin aufgrund ihrer Haltung zum Lebensrecht seien nicht mit persönlicher Diffamierung gleichzusetzen, sondern fielen unter das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung.
Lebensschutz und gesellschaftliche Verantwortung
Die Auseinandersetzung ist nicht nur eine juristische. Sie wirft auch die Frage auf, welche Gesellschaft wir sein wollen. Eine Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen besonderen Schutz und Nachteilsausgleiche gewährt, muss sich fragen lassen, ob es konsistent ist, zugleich eine Praxis zu dulden, die das Leben von Menschen mit Behinderungen schon vor der Geburt in Frage stellt.
Hierbei geht es nicht allein um moralische oder religiöse Überzeugungen, sondern um die Kohärenz des Rechtsstaates. Wenn das Grundgesetz Benachteiligungen aufgrund von Behinderung verbietet, darf es nicht gleichgültig bleiben, wenn neun von zehn Kindern mit Trisomie 21 abgetrieben werden. Lebensschutz bedeutet auch, eine Kultur des Respekts gegenüber Schwachen und Verletzlichen zu fördern.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft mit dem rasanten Fortschritt der Medizin und Genetik umgehen will. Ohne klare rechtliche und ethische Leitplanken droht die Gefahr, dass pränatale Diagnostik zunehmend zur Selektionspraxis wird.
Fazit
Der Fall Brosius-Gersdorf hat die Debatte um Lebensschutz und Staatsauftrag erneut in den Mittelpunkt gerückt. Er zeigt exemplarisch, wie stark verfassungsrechtliche Grundsatzfragen, ethische Wertungen und gesellschaftliche Entwicklungen miteinander verflochten sind.
Der Schutz menschlichen Lebens – insbesondere des ungeborenen – ist mehr als eine politische oder religiöse Position. Er ist eine Frage der Rechtsstaatlichkeit und der Glaubwürdigkeit des Grundgesetzes. Wer die Menschenwürde relativiert, greift damit einen Kernbestand unserer Verfassung an.
Lebensschutz ist und bleibt ein Staatsauftrag. Dies gilt unabhängig davon, wie sehr sich gesellschaftliche Stimmungen verändern. Aufgabe der Politik, der Justiz und der Zivilgesellschaft ist es, diesen Auftrag ernst zu nehmen – nicht nur im juristischen Diskurs, sondern auch im gesellschaftlichen Handeln.






Menschenwürde – ein großes Wort, ein zerbrechlicher Schatz
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