Den eigenen Besitz zu reduzieren und auf Konsum zu verzichten, ist das Kernkonzept des Minimalismus. Doch das ist nicht alles: Minimalismus ist eine Philosophie, die sich durch den Alltag zieht, und mit der das eigene Leben infrage gestellt und bereichert werden kann.

Wo die Unfreiheiten wohnen
Konsumzwang macht unfrei. Er hält uns in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem gefangen, in dem wir viel Zeit darauf verwenden, Geld zu verdienen, das wir für Dinge ausgeben, die keine Lebensnotwendigkeit sind. Nach Hannah Arendt sollte mit der Möglichkeit, dass Menschen soweit der Armut entfliehen, dass sie sich um mehr kümmern können, als um lebensnotwendige Bedürfnisse, ihre Freiheit möglich werden. Stattdessen scheint es, dass der erworbene Besitz uns weiter beschäftigt, statt unsere Gedanken zu befreien: Weil man sich nicht nur um Anschaffung und Bezahlung, sondern auch um Aufbewahrung, Pflege und Nutzung kümmern muss. Da eine kapitalistische Gesellschaft sich durch ihren exzessiven Konsum auszeichnet, ist Besitz außerdem wichtig für den sozialen Status: Es ist selbstverständlich, Besitz zur Schau zu stellen. Unser Besitz beansprucht also nicht nur vor, sondern auch nach dem Erwerb unsere Zeit.
Diese Zeit fehlt uns, wenn es darum geht, das System an sich zu hinterfragen: Kapitalismus basiert in seiner heutigen Ausführung darauf, dass privilegierte Gesellschaften die weniger und gar nicht Privilegierten ausbeuten. Privilegiert sind Gesellschaften, die aufgrund ihres Status als „westlich“, „zivilisiert“ und „entwickelt“ in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen und der Welthandelsgesellschaft das Sagen haben. Die Stimmen der Staaten des Globalen Nordens sind lauter und können ökonomische Entwicklungen wie z.B. Handelsabkommen in ihrem Sinne gestalten.
Ohne im Detail darauf eingehen zu wollen, dass diese Entwicklungen meistens auf Kosten derjenigen Staaten und Gesellschaften geschehen, die nicht privilegiert und mächtig genug sind, das System zu ihrem Vorteil zu beeinflussen, soll dies der Selbsterhaltungsmechanismus des kapitalistischen Systems aufzeigen: Dadurch, dass das Systems uns so sehr beschäftigt (Geld verdienen, dann konsumieren und durch Besitz sozial interagieren), erhält es sich selbst. Das Hinterfragen des Systems wird von selbigem erschwert.
Die Gesellschaften, die privilegiert genug sind, das System ändern zu können, sind zu sehr mit sich selbst und ihrem Konsum beschäftigt, um tatsächlich etwas zu unternehmen. Deshalb geht es beim Minimalismus nicht nur um materiellen Konsum. Minimalismus ist eine Lebensphilosophie, die dazu anregt, sich mit mehr als dem eigenen Kaufverhalten auseinanderzusetzen: weniger individualistische und egozentrische Lebensführung, mehr bewusstes Leben.
Im Grundsatz mehr als (Nicht-)Konsum
Oft fängt eine minimalistische Lebensausrichtung zwar damit an, dass Menschen sich von ihrem Besitz erdrückt, ja vereinnahmt fühlen. Aber ein Aussortieren des Haushalts ist oft nicht das Ende des neuen Bewusstseins. Je weniger ich mir um meinen Besitz Gedanken gemacht habe, weil ich Unnötiges aussortiert habe, desto mehr habe ich hinterfragt, was meiner freien und unabhängigen Lebensführung außerdem im Wege steht: Mein ökologischer Fußabdruck, der mir unerträglicher scheint, je mehr ich mich mit dem Thema Klimawandel und Ressourcenverschwendung auseinander setze, oder alte Freundschaften, in denen man sich nicht mehr viel zu sagen hat.
Zeitfresser, wie meine Facebook-Timeline und mein Instagram-Feed, nach deren Durchforstung ich mich frage, was mir die letzten Minuten denn gebracht haben. Manchmal sind es knapp verpasste Busse, wegen derer ich meine Zeit wartend und ungenutzt an Haltestellen verbringe. Es sind Partys, auf denen ich gar nicht sein will, die ich aber nicht verlasse aus Angst, etwas zu verpassen. Es sind verschlafene Morgen, wegen derer die Abende wieder lang werden.
Selbstbefreiung – und doch wieder ein privilegiertes Hobby
Die Reflexion meines eigenen Konsumverhaltens und der gesellschaftlichen Strukturen, die mich zu diesem Konsum anregen, hat mir deutlich vor Augen geführt, dass ich als privilegierte Person in einer Gesellschaft des Globalen Nordens in einer Sache trotzdem nie frei sein kann: Mein Gewissen, das genau weiß, dass ich mich nur mit einem Konzept wie Minimalismus beschäftigen, ja überhaupt erst auf die Idee komme, meinen Geist befreien zu müssen oder jedenfalls freier machen zu wollen, weil ich zu ebendiesem Teil des kapitalistischen Systems gehöre, der Hannah Arendts Voraussetzung zur Freiheit quasi automatisch besitzt.
Ironischerweise bin ich systemisch gesehen in der Machtposition der Weltordnung, die der minimalistischen Philosophie überhaupt erst ihre Notwendigkeit gibt. Eine Möglichkeit, meine Machtposition zu nutzen, um zu einer Systemveränderung hin zu einer gerechteren Weltordnung mit mehr Privilegien für alle beizutragen, findet sich in minimalistischer Philosophie: weniger Konsum, weniger Individualismus, dafür mehr bewusstes Leben – und Bewusstsein für die eigene Rolle im System. Nur in einer global gerechten Gesellschaft können alle ihre minimalistische Freiheit finden.
Super Beitrag Lisa! Gefällt mir sehr gut, wie du dich mit dem Thema auseinander gesetzt hast.
Danke sehr, Lioba, das freut mich!