Der erste Wahlgang ist geschafft, Europa atmet auf und mit ihm Deutschland. Eines aber sorgt für Verunsicherung: Mehr als 40 Prozent der Franzosen stimmten gegen die EU und für eine radikalere Politik.
Ein Mix aus Spannung, Euphorie und Schock
„Dieser Abend wird sehr aufregend. Alles ist möglich! Wir sind sehr gespannt, wie die Wahl heute ausgeht“, sagte Rachel, 44 Jahre alt, als sie am Sonntag im Institute Français in Köln ihre Stimme für die Wahl abgab. Obwohl die Demoskopen seit Wochen zwei klare Favoriten für die Stichwahl angaben, herrschte bei den Franzosen am Wahltag selbst große Unsicherheit, Spannung und zum Teil auch Angst darüber, wie der erste Wahlgang ausgehen würde. Gegen 20:00 Uhr gab es die ersten Hochrechnungen, die auf der einen Seite für Euphorie und große Freude sorgten, auf der anderen Seite aber auch für Frust und Schock. Emmanuel Macron und Marine Le Pen lieferten sich ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen: Kurz nach acht Uhr lag Macron bei 23-24 Prozent, Le Pen bei 21,6-23 Prozent. Für den konservativen Fillon zeichnete sich ein Ergebnis von 19-20,3 Prozent ab und dem Sozialisten Mélenchon gaben 19,5-20 Prozent der Franzosen ihre Stimme. Auf die Euphorie Macrons‘ Anhänger und vieler Europafreunde folgte schon bald die Ernüchterung: Damit, dass der Front National tatsächlich zweitstärkste Kraft wurde, hatten scheinbar viele Menschen nicht gerechnet. „Ich bin völlig geschockt!“, sagt eine Französin, die die Wahl vor dem Fernseher mitverfolgte.
Sozialisten weit abgeschlagen auf dem 5. Platz
Nachdem alle Stimmen ausgezählt sind, liegt Macron bei einem finalen Ergebnis von 24 Prozent, gefolgt von Marine Le Pen mit 21,3 Prozent. François Fillon ist mit 20 Prozent knapp am Einzug in die Stichwahl vorbeigeschrammt, dicht gefolgt von Jean-Luc Mélenchon mit 19,6 Prozent. Benoît Hamon, der Kandidat der Sozialdemokraten, konnte nur 6,4 Prozent der Wähler von sich überzeugen. Die anderen sechs Kandidaten kamen auf circa vier Prozent.
Glückwünsche, als hätte er bereits gewonnen
Der Sieger der ersten Runde ließ sich von seinen Anhängern feiern. „Ich will der Präsident des ganzen französischen Volkes sein. Der Präsident der Patrioten gegen die Bedrohung der Nationalisten“, verkündete er auf seiner Wahlparty. „In eurem Namen trage ich euren Optimismus in den zweiten Wahlgang. Es ist der Weg der Hoffnung, den wir uns für unser Land wünschen und für Europa.“ Viele Wähler scheinen ihn gerade wegen seines europafreundlichen Programmes gewählt zu haben, so wie Bernard. Das war für den 80-Jährigen der Hauptgrund. „Und um den Front National zu verhindern“, fügte er hinzu. Die Welle der Euphorie, die Macrons Wähler am Sonntagabend trägt, riss scheinbar auch europäische und vor allem deutsche Politiker mit.
Der EU-Kommissionspräsident Juncker sprach dem unabhängigen Kandidaten seine Glückwünsche aus und Regierungssprecher Steffen Seibert befürwortete Macrons Sieg in der ersten Runde. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz gratulierte dem Kandidaten auf Twitter: „Alle DemokratInnen in Frankreich müssen sich nun vereinen, damit er und keine Nationalistin Präsident wird!“ Auch Cem Özdemir, der Vorsitzende der Grünen, freute sich über das Wahlergebnis. Mit ihm könne Deutschland gut zusammenarbeiten, meinte er. Außenminister Gabriel schien sogar bereits zu wissen, wer die Wahl gewinnen wird, so sagte er über Macron: „Ich bin sicher, er wird der neue französische Präsident. Auch Macron scheint sich da sehr sicher zu sein, so stand auf seinem Rednerpult „Macron Président“.
Gedämpfte Stimmung bei Le Pen
Anders als Emmanuel Macron hat Marine Le Pen den Abend nicht in Paris, sondern in einer Turnhalle einer Kleinstadt in Nordfrankreich verbracht. Ihre Anhänger reagierten ausgelassen auf das Ergebnis ihrer Kandidatin und tanzten auf der Wahlparty. „Es ist Zeit, das französische Volk von den arroganten Eliten zu befreien, die ihm sein Verhalten vorschreiben wollen. Ich bin die Kandidatin des Volkes!“, rief Le Pen ihnen freudestrahlend zu. Dass ihre Ansprache keine fünf Minuten dauerte, wollte nicht recht zur Stimmung ihrer Wähler passen. Laut Experten hatte die ehemalige FN-Chefin gehofft, aus dem ersten Wahlgang als Siegerin hervorzugehen. Dafür freuten sich andere umso mehr für sie. Die AfD gratulierte ihr „zum Zwischenerfolg“ und Geert Wilders bezeichnete das Ergebnis als einen „hellen Tag für Patrioten in Frankreich und anderswo.“ Der Kreml wollte die Wahl nicht bewerten. Le Pen pflegt enge Beziehungen nach Moskau, weshalb davon auszugehen ist, dass der Kreml ihren Zwischensieg begrüßt hätte.
Besonders im Nordosten des Landes hatten die Menschen für Le Pen gestimmt. Der Frankreichkorrespondent Ulrich Wickert (ARD) sagte gegenüber dem Fernsehsender Phoenix, dass 40 Prozent aller Arbeiter für Le Pen an die Wahlurne gingen. „Da wo in den 1980er Jahren die Kommunisten stark waren, ist jetzt der Front National stark.“
Neue politische Trends erkennbar
Obwohl die proeuropäischen Politiker nach dem Ausgang des ersten Wahlgangs erleichtert aufatmeten, haben mehr als 40 Prozent der Franzosen für Kandidaten mit extremen Vorstellungen gestimmt – seien es extrem rechte oder extrem linke Ideen. Das zeigt einmal mehr, wie überdrüssig die Franzosen der Politik der letzten Jahre sind. SWR-Korrespondent Marcel Wagner sprach in dem Zusammenhang, von „einem Knall (…), der sich gestern Abend in Frankreich ereignet hat.“ Für einen Aufschrei sorgte auch die Tatsache, dass es keine der beiden großen Volksparteien in die zweite Wahlrunde geschafft hat. Hamon, der lediglich um die sechs Prozent aller Stimmen erhielt, sprach von einem Desaster. Er übernehme „die volle Verantwortung“ dafür. Das Ergebnis stellt in der Geschichte der 5. Republik das schlechteste der Parti Socialiste (PS) dar. Cyril Mallet, Vorsitzender der PS in Köln, merkte schon im Vorfeld der Wahlen, dass dieses Jahr etwas anders ist: „Es war schwieriger, Leute für unseren Kandidaten zu gewinnen“, erzählt er. „Es wurde mehr über Affären gesprochen und nicht so sehr über die Programme.“
Frankreich steht mit dieser Entwicklung nicht alleine da: Bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden erlebten die Sozialdemokraten einen steilen Absturz im Vergleich zum Ergebnis der vorherigen Wahlen im Jahr 2012. So fiel die „Partij van de Arbeid“ von 24,8 Prozent auf 5,7 Prozent. Auch Österreichs Sozialdemokraten erreichten bei der Wahl zum Bundespräsidentenwahl im vergangenen Jahr nur circa elf Prozent. Der Verlust von Stimmen für die Sozialdemokraten wirkt wie ein neuer Trend. Was den Stimmenverlust für traditionelle, französische Parteien wie die PS angeht, spricht Ulrich Wickert auf bild.de von einer Identitätskrise, in der sich die Franzosen befinden. Sie wollten keine Ideologen mehr.
Die Stichwahl: Zweite Runde als Protestwahl?
Die Frage, die sich nun alle stellen: Wie werden die Franzosen am 7. Mai wählen? Werden sie sich für den gemäßigten Kandidaten Emmanuel Macron entscheiden, oder wird es – ähnlich wie bei den Amerikanern – eine Protestwahl zugunsten Marine Le Pens geben? Umfragen sehen Macron mit ca. 62 Prozent vorne. Unmittelbar nach den ersten Hochrechnungen appellierte François Fillon an seine Wähler, gegen Le Pen zu stimmen: „Es gibt keine andere Wahl, als gegen die Rechtsextreme zu stimmen.“ Auch Benoît Hamon sowie Innenminister Cazeneuve riefen die Bürger dazu auf, am 7. Mai den unabhängigen Macron zu wählen. Der Kandidat der französischen Linken, Jean-Luc Mélenchon, wollte keine Wahlempfehlung aussprechen. Nach der Wahl hatte Sahra Wagenkecht ihm zu seinem guten Ergebnis gratuliert. Auf Nachfrage von Journalisten sagte die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion auf einer Pressekonferenz zwei Tage nach der Wahl, natürlich werde Mélenchon nicht Le Pen wählen. „Selbstverständlich können Linke nicht Le Pen wählen!“
Es ist nur die Frage, ob die Anhänger des französischen Linken-Politikers das auch so sehen wie seine deutsche Kollegin. Am Wahlabend zumindest schwankten einige Anhänger zwischen Freude über das hohe Wahlergebnis ihres Kandidaten und der Enttäuschung, die Stichwahl verfehlt zu haben. Dabei regten sich zwei ganz besonders über die Hamon-Wähler auf: „Hätten Sie Mélenchon ihre Stimme gegeben statt Benoît Hamon, dann wären wir jetzt noch dabei. Sie haben ihre Stimme verschwendet!“ Nun überlegen sie, sich im zweiten Wahlgang zu enthalten. Der Grund: „Von der Hasspredigerin und dem Kandidaten aus der Finanzwelt kann man keinen wählen.“
Wie sehen das die Vertreter des konservativen Kandidaten Fillons? Unter seinen Wählern waren vor allem Katholiken. Noch vor einiger Zeit sprach Le Pen davon, Krippen in staatlichen Einrichtungen aufstellen zu wollen und betonte die Wichtigkeit der Tradition. Aussagen wie diese könnten sie für seine Anhänger attraktiv werden lassen. Werden sie der Empfehlung ihres Mannes folgen Macron zu wählen, oder sich zum Front National hinreißen lassen?
Im deutschen Ausland zumindest scheint es einen klaren Tenor zu geben: Pro Europa und gegen Abgrenzung. Man könnte sagen, das liegt auf der Hand, wenn man im EU-Ausland lebt und von den europäischen Freizügigkeiten profitiert. Aber heutzutage liegt vieles nicht mehr auf der Hand. Viele Franzosen, die hier leben, haben sich für Macron ausgesprochen. Auch im Kölner Institute Français machte es den Eindruck, als seien die meisten proeuropäisch eingestellt und wollten den Sieg der rechtsextremen Partei verhindern: „Man wählt für jemanden, der Chancen hat und geht weniger nach den eigenen Interessen“, berichtet Marine (30), die sich ein EU-freundliches Frankreich wünscht.
Hohe Erwartungen an die neue Regierung
Ob Marine Le Pen oder Emmanuel Macron das Rennen machen wird, die jungen Franzosen haben keine geringen Erwartungen an die künftige Führung ihres Landes. Den Eindruck machten zumindest die Wähler im Kölner Wahllokal; „Ich wünsche mir ein offenes Frankreich. Die Franzosen sollen wieder mehr Vertrauen in ihre Zukunft haben können“, sagt Marine. Auch der 32-jährige Pierre, der in Deutschland lebt, wünscht sich ein anderes Frankreich für die nächsten Jahre: „Es gibt dort nur zwei Seiten: Entweder du bist Araber, oder du bist Faschist“. Pierre hat als Homosexueller in der jüngeren Vergangenheit einige schlechte Erfahrungen in Frankreich gemacht. „Viele Menschen dort haben ein Problem damit. Entweder sie gucken dich doof an, oder sie fühlen sich gezwungen, einen Kommentar dazu abzugeben wie ‚Hey, ich find das ja voll cool.‘“ Er wünscht sich für sein Land, dass es endlich „zur Ruhe kommt“.
Aber nicht nur die jungen Bürger sehen sich danach. Auch die 59-jährige Soazig sehnt sich nach mehr Ruhe in ihrem Land. „Außerdem“ sagt sie, „soll Frankreich offener werden und europafreundlich bleiben.“ Die 41 Jahre alte Aycha hat zwei Söhne, sie lebt und arbeitet in Deutschland. Von dem/der künftigen PräsidentIn hat sie ganz konkrete Vorstellungen: Der oder diejenige soll „alle Franzosen vertreten, sich für Gleichberechtigung einsetzen und etwas gegen die hohe Arbeitslosigkeit tun.“
Das letzte, entscheidende Puzzlestück
Wenn die Prognosen Recht behalten, und Macron die Wahl in knapp zwei Wochen gewinnen sollte, ist das aber noch keine Garantie dafür, dass sich die Politik Frankreichs um 180 Grad drehen wird. Entscheidend werden die Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres sein: Hier muss der oder die künftige PräsidentIn Mehrheiten gewinnen, um regierungsfähig zu sein und seine/ihre Ideen durchsetzen zu können. Es ist sozusagen das letzte, entscheidende Puzzlestück, das den Franzosen zeigen wird, wohin die Reise in den nächsten Jahren geht.
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