Es gibt wohl keine schlimmeren Ängste und Vorstellungen als „durchzudrehen“, „verrückt zu werden“ oder den „Verstand zu verlieren.“ Im Alltag belustigen wir uns mit „Bist du reif für die Klapse?“ und im nächsten Moment grübeln wir erschrocken, ob wir vielleicht ernsthaft psychisch erkrankt sein könnten. Wo sind Symptome noch „normal“, wo auffällig und wann müssen wir uns Sorgen machen?
Der Artikel spiegelt meine eigene Leidensgeschichte und meine Überlegungen wider. Wende dich an einen (Fach-)Arzt, falls du selbst betroffen sein solltest.
Ich hab‘ doch nur Einschlafprobleme!
Entrüstet sah ich meine Hausärztin an, als sie mir eine Psychotherapie vorschlug. „Das werde ich auf keinen Fall machen!“, nahm ich mir fest vor. „Ich bin doch nicht psychisch krank, ich kann nur nicht einschlafen.“ So zogen weitere Jahre ins Land und ich freute mich über jeden Tag, den ich gut meisterte. Mein Funktionsmodus lief wie geschmiert! „So schnell zwingt mich nichts in die Knie”, gab ich stolz preis. Wenn ich ehrlich gewesen wäre, hätte ich die früheren Anzeichen nicht ignoriert.
Vor den Einschlafproblemen hatte ich wiederkehrende Panikattacken, die ich aber nicht als solche erkannte. Beispielsweise nahm ich am Gottesdienst teil und plötzlich wurde mir eng um die Brust und ich starrte fluchtartig auf die verschlossene Tür. Die nächste Enge kam im Bus, dann im Aufzug und schließlich versuchte ich immer mehr, diese Orte zu vermeiden. Im Vertrauen fragte ich eine Freundin um Rat. Diese zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung, was du hast. So schlimm hört es sich aber nicht an.“
Kurze Zeit später kamen neue Symptome dazu: grundloses Weinen, apathisches Auf-Dem-Bett-Liegen, eine tiefe Leere und gefühlte Sinnlosigkeit. Manchmal machte es mich glücklich, davon zu träumen, meinen Koffer zu packen und wegzugehen. Ich wanderte gedanklich in ein anderes Land, wo ich leichter leben konnte. „Jetzt reiß dich mal zusammen“, raunte ich mir zu. Denn immerhin war das Abitur und die Führerscheinprüfung noch zu absolvieren. Der erste Kuss, die erste Liebe, tanzen, in Clubs gehen, sich frei fühlen – das ging alles an mir vorüber. Meine Jugend gestaltete sich im Überlebensmodus.
Erste offene Schwachstellen?
Ich bewarb mich auf ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Hoffnung, endlich mal von zu Hause rauszukommen und die Probleme hinter mir zu lassen. Bevor das FSJ startete, fanden Gespräche statt und ich vertraute mich einer Mitarbeiterin an. Ich erzählte von meinen Lebensschwierigkeiten. Sie hörte verständnisvoll zu, gab mir ein paar Ratschläge und so ging mein Leben weiter.
Im FSJ arbeiteten wir zunächst zu dritt im Team, bis zwei der Mitarbeiter ein Burn-Out hatten und ich allein weiterarbeiten musste. Meine Tage wurden wieder dunkler, doch nahm ich mich zusammen und beendete schließlich das FSJ vertragsgemäß, ohne es vorzeitig abzubrechen. Freudig bewarb ich mich auf einen Studienplatz und erhoffte mir, in ein erfolgreiches Studienleben zu starten.
Rettungsanker in Sicht?!
Leider kam ich aus dieser tiefen Traurigkeit und der innerlichen Unruhe nicht mehr heraus. Also suchte ich vor Studienbeginn eine Seelsorgerin auf, in der Hoffnung schnell Hilfe zu bekommen und gewappnet in mein Studium zu starten. „Das hört sich nach einer Depression an“, behelligte mich diese und schlug mir mehrere Sitzungen vor. Als ich den Preis dafür hörte, lehnte ich dankend ab und konstatierte: „Ich habe keine Zeit für eine Depression.“
Da mich aber die Symptome mittlerweile größtenteils im Alltag einschränkten, suchte ich einen Facharzt für Psychiatrie auf. „Sie haben eine zu hohe Anspruchshaltung an sich selbst. Machen Sie eine Psychotherapie und nehmen Sie Medikamente!“, klärte mich dieser auf. Beides probierte ich aus – mit wenig Erfolg. „Wenn ich nur eine zu hohe Messlatte an mich selbst habe, lässt sich das doch verändern“, überlegte ich. „Das ist doch normal. Viele Menschen erwarten von sich Bestleistungen und haben einen inneren Kritiker!“
Das Erwachen meines Umfeldes
War es bisher ein innerlicher Leidensdruck, machte mich zunehmend mein Umfeld aufmerksam auf mein von der Norm abweichendes Verhalten. „Ist mit dir alles in Ordnung?“, war die Standardfrage. Ich lachte in ernsten Situationen, ich wurde als sehr unruhig und verbissen beschrieben und konnte keine sozialen Beziehungen wirklich aufbauen.
Eines Tages schrieb ich eine gedankenverlorene und unvollständige Mail an meine Professorin, die mein Fauxpas als nicht angemessen betrachtete. Mit der Zeit zog sich die Schlinge immer mehr um meinen Hals und ich konnte die psychischen Symptome nicht mehr leugnen. Meine Familie schaute mich sehr besorgt an und fragte, ob ich nicht in eine Klinik wollte. Ich gab mich geschlagen.
Jetzt wird es ernst
War zuvor noch von einer „zu hohen Messlatte“ gesprochen worden, waren in der Psychiatrie auf einmal handfeste psychische Diagnosen im Raum. Sie flogen mir geradezu um den Ohren. Ich schien, mich noch mehr zu verlieren. Es kam mir vor, als hätte ich Jahre gekämpft, dass „irgendetwas“ nicht herauskommt und plötzlich hatte man die Dose der Pandora geöffnet.
Mit jedem Tag wurde die Dose mehr geöffnet und meine psychischen Symptome wurden stärker. Kamen sie, weil sie endlich da sein durften oder weil das Klinik-Setting in mir ein sehr hohes Stressempfinden auslöste? Wie „normal“ sind Menschen noch, wenn sie in einer Psychiatrie untergebracht sind und nicht verstehen, was ihnen passiert? Ich kenne aber auch andere Betroffene, die davon berichten, in einer Klinik endlich zu Ruhe gekommen zu sein oder ihre Diagnose erfahren zu haben. So unterschiedlich können Erfahrungen sein.
Das „Learning“ aus meiner Geschichte
Heute sind etliche Jahre vorüber und ich blicke aus einer anderen Perspektive auf meine Leidensgeschichte. Ich habe jahrelang psychische Symptome geleugnet und sie verdecken wollen, in der Annahme, dass sie schon wieder weggehen werden. In der Regel lösen sich Symptome aber nicht auf, wenn alle anderen Parameter unverändert bleiben. Meine hohe Messlatte würde ich rückblickend darauf schieben, dass ich leistungsmäßig unauffällig bleiben und weiterhin funktionieren wollte.
Letztlich war es sehr schwierig, in der Klinik überhaupt herauszufinden, was mir fehlte, weil ich schon mit einigen Medikamenten dort ankam. Welche Symptome waren medikamenteninduziert und welche aufgrund einer möglichen Erkrankung? Und die Frage aller Fragen: Was waren eigentlich die Ursachen für die Symptome? Mein Fazit ist, dass ich mir viel Leidensdruck hätte ersparen können, wenn ich früher einen ehrlichen Zugang zu mir und meinen Beschwerden gefunden hätte. Ich nehme heute Symptome früher und ernster wahr, ohne sie überzubewerten. Na klar, man kann von zwei Seiten vom Pferd fallen!
Ermutigung
Wenn du bei dir psychische Symptome wahrnimmst, die dir Angst machen oder dir Sorgen bereiten, ermutige ich dazu, dich anzunehmen und ernst zu nehmen mit dem, was du in diesem Moment fühlst. Mein größter Fehler war, dass ich mich selbst ablehnte und somit auch keinen Weg mehr zur Genesung betreten konnte. Ich lief wie vor mir selbst weg. Obwohl ich eine Mauer vor mir sah, rannte ich darauf zu und bremste davor nicht ab. Ich musste den Aufprall spüren!
Ebenfalls bestärke ich dich darin, ärztlichen Rat einzuholen und wenn nötig eine Zweitmeinung. Ich habe mehrere Anläufe und viel Geduld gebraucht, um wirklich Hilfe zu bekommen. Besprich dich mit einer Vertrauensperson, wie du weiterhin vorgehen willst. Bleib selbst mündig und stehe für dich ein. Das war nämlich mein zweitgrößter Fehler, dass ich mich zu voreilig aufgegeben und die Verantwortung vollständig auf die Ärzte übertragen habe. „Ich nehme ja eh alles falsch wahr. Dann lebt ihr doch mein Leben!“ Diese Einstellung hat mich einige Lebensjahre gekostet, um mein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, selbstwirksam und eigenverantwortlich zu handeln.
Notfallpläne
Gibt es überhaupt ein zu frühes Handeln bei ersten Anzeichen von psychischen Symptomen? Was ist, wenn man selbst die ersten Anzeichen gar nicht bemerkt, sondern vom Umfeld darauf hingewiesen wird? Meine Lebensgeschichte war ein Prozess, der mit der Zeit eine Anhäufung von Symptomen und eine Erhöhung des Leidesdruckes mit sich brachte.
Die Symptome kamen weder von heute auf morgen noch waren sie sofort eklatant vorhanden. Das kann aber, abhängig vom Beschwerdebild, sehr unterschiedlich und abweichend sein. Ich mache dir Mut, wenn du Angehörige/r oder Freund/in eines Menschen mit seelischen Nöten bist, im Vorfeld zu besprechen, welche Schritte ihr bei den (ersten) psychischen Symptomen einleiten wollt. Erstellt im Voraus Notfallpläne, um im Ernstfall gewappnet zu sein.
Bin ich nun psychisch erkrankt?
Gesellschaftlich setzen wir uns kritisch mit bestimmten Wortwahlen auseinander. Statt „Behinderte“ können wir den Ausdruck „Menschen mit Behinderungen“ nutzen. Ich könnte mich als „seelisch leidend“ bezeichnen oder als „Mensch mit besonderen seelischen Herausforderungen“.
Das trifft es größtenteils. Unabhängig von der Bezeichnung ist mir mein persönliches Krisenmanagement wichtig und dazu gehören neben der Achtsamkeit und die Selbstfürsorge das Wissen: „Ja, ich habe psychische Auffälligkeiten. Das ändert nichts daran, dass ich ein wertvoller, würdiger Mensch bin. Ich darf sein, so wie ich bin.“ Das ist fernab von den oftmals vorherrschenden Vorurteilen und der Stigmatisierung „verrückt, wahnsinnig, abgedreht oder dumm“ zu sein.
Und du?
Wie würdest du handeln, wenn du erste psychische Auffälligkeiten an dir entdeckst? Was unternimmst du, wenn du in deinem Umfeld Auffälligkeiten beobachtest?
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