Manchmal entscheiden Menschen, ihr Leben selbst zu beenden oder es wird plötzlich durch eine Erkrankung beendet. Unsere Autorin hat auf diesem Weg drei ihrer Freunde ziehen lassen müssen. Was ihr noch wichtig gewesen wäre, ihnen mitzuteilen, drückt sie mit einem Brief aus.
In diesem Beitrag geht es um psychische Leiden. Wenn du selbst betroffen bist, entscheide, ob du wirklich weiterlesen möchtest. Am Ende findest du mögliche Hilfestellen. Wenn du einen Kommentar schreiben möchtest, freue ich mich riesig.
Lieber Manuel,
kannst du dich noch an unsere erste Begegnung erinnern? Ich schmunzelte über deine weißen Zähne, dein breites Grinsen und deine braungebrannte Haut. Mir kam es fast schon seltsam vor, dich so strahlend zu sehen, inmitten der eher düsteren Atmosphäre. Immerhin waren wir umgeben von einer Psychiatrie. Auch wenn wir keine Akutfälle mehr waren und mutig unser Leben wieder bestreiten wollten. Ich betrachtete deine Arme. Sie waren mit Wunden vollzogen. Ich mochte sie, denn jede Einzelne hatte ihre eigene Geschichte. Wir gingen ein paar Schritte zusammen und ich schloss dich als Bruder in mein Herz.
Ich freute mich immer, dir zu begegnen. Du nahmst mich wahr und bei dir hatte ich das Empfinden, dir wichtig zu sein. Dann verloren wir uns aus den Augen und eines Tages, als hätte ich es schon gespürt, las ich in den Augen unserer gemeinsamen Freunde die Schocknachricht: „Er ist tot.“ Die Welt blieb für mich in diesem Moment stehen. So gerne hätte ich mich bei dir bedankt für unsere gemeinsame, wundervolle Zeit. Die Begegnung mit dir war besonders und eindrücklich. So sehr hätte ich mir gewünscht, dich noch einmal strahlen zu sehen. Es tut mir so weh, welchen Schmerz du in dir getragen haben musst. Mit den Worten: „Flieg, Bruder, flieg. Flieg zum Himmel!“ lasse ich los und winke dir nach.
Liebe Verena,
ich bewunderte deine toughe Art. Du warst unheimlich energiegeladen, hattest deinen eigenen Kopf und dich hätte niemand von deinen Ideen abbringen können. Aber ich spürte in dir auch eine sehr zarte, verletzliche Pflanze. Manchmal konnte ich für einen kurzen Augenblick deine Schmerzen empfinden. Ich mochte die Gespräche mit dir und danke dir von Herzen dafür. Auch wir haben uns aus den Augen verloren und ich hoffte so sehr für dich, dass du in den Kliniken die Hilfe bekommst, die du suchtest.
Tief betroffen erfuhr ich, dass du nicht mehr heil nach Hause kamst nach dem Klinikaufenthalt. Auch hier bleibt die Zeit für einen Schockmoment stehen. Bevor du gehst, hätte ich dich gerne umarmt und dir ein kleines Küsschen auf die Wange gegeben. Ich hätte dich ziehen lassen, wenn es dein letzter Wille war. Ich hätte dich nicht aufgehalten, weil ich weiß, dass die Liebe auch loslässt. Aber zuvor hätte ich dir meine größte Wertschätzung und meine Dankbarkeit für unsere gemeinsame Zeit ausgedrückt.
Liebe Fiona,
du warst während meiner akuten Krise ein wahrer Lichtblick. Mit deiner unbekümmerten, humorvollen Art konnte ich viele Tage besser überstehen. Obwohl du selbst so viel Leid ertragen musstest, war dein Ohr immer offen für mich. Mit dir bekam ich neue Lebensfreude. Du hast dein Leben so richtig ausgeschöpft. Manchmal haben dich die Therapeuten darauf hingewiesen, dass du nicht so viel „quatschen“ sollst. Noch heute bin ich dir tausendfach dankbar dafür, dass du dieser Bitte nicht nachgekommen bist.
Mit deiner Lebendigkeit hast du uns alle so bereichert. Und dann ganz plötzlich bist du eines Tages zusammengesackt und nicht mehr aufgestanden. Es tat so weh, dich loslassen zu müssen. Bevor du gehst, hätte ich zu dir gesagt, dass du alles richtig gemacht hast. Du hast mein Leben so nachhaltig geprägt und noch heute, Jahre später, überlege ich mir, wie du dich in den verschiedenen Situationen verhalten hättest. „Danke, meine Freundin, für deine liebevolle, erquickende Frohnatur! Du hast mich gelehrt, dass das Leben zu kurz ist, um es zu verpassen!“
Bevor ich gehe…
Es gibt Lebensphasen, die wirken so bedrohlich, verzwickt und aussichtslos erscheinen, sodass manchmal nur noch der Lichtblick bleibt, das Leben verlassen zu dürfen. Nicht selten habe ich von Mitpatienten gehört: „Weißt du, ich habe nur einen Tag nach dem anderen gelebt. Morgens habe ich mir gesagt, dass ich am Abend das Leben verlassen könnte. Aber es kam immer wieder ein neuer Morgen und eine neue Chance, zu leben.“
Manchmal erscheint das Leben so kaputt, so unreparierbar, so unwiederbringlich. Diesen Scheideweg zwischen Leben und Tod kenne ich nur zu gut. Bisher habe ich mich immer fürs Leben entschieden, weil ich innerlich spüre, dass ich eine Botschaft in mir trage, die ich weitergeben möchte. Meine Geschichte habe ich nicht nur für mich erlebt, sondern um sie mit anderen zu teilen. Diese Aussagekraft, diese Sinnstiftung hält mich am Leben.
Ein Versuch der Ermutigung
Jeder Mensch ist wertvoll, einzigartig und erst einmal geschaffen, um zu leben. Somit hat jeder eine Daseinsberechtigung, unabhängig davon, wie es einem gerade geht. Manchmal denken wir in akuten Lebenskrisen, keine Lebensfähigkeit mehr zu haben, keine Perspektive, keine Kraft mehr. Es wirkt alles so dunkel, sodass nur noch der Tod als Erlösung betrachtet wird. Darf ich dir von meiner Erfahrung berichten?
Auch wenn vieles anders in meinem Leben gekommen ist, einige Träume zerplatzt sind und ich dachte, nie wieder aus dieser schweren psychischen Krise zu kommen, lebe ich heute ein größtenteils sinnvolles Leben. Es ist vieles besser und erträglicher geworden, weil ich mit der Zeit und in kleinen Schritten einen Umgang mit meinem Leid gefunden habe. Es war ein sehr steiniger Weg und er ist es noch heute, aber in der Tiefe des Lebens habe ich wahre Schätze finden dürfen. Im Nachhinein war ich froh, mir öfters gesagt zu haben: „Komm, geh noch ein Stückchen deines Lebens.“
Erst viel später
In akuten Lebenskrisen kreischte ich öfters wortwörtlich nach Hilfe: „Warum ist denn da niemand, der mir wirklich hilft?“ Diese Ohnmacht trieb mich öfters ins Bodenlose, denn da war kein Halt mehr, sondern ein Stürzen in einen meterlangen, nicht endenden Kanal. „Wir müssen Sie erst stabilisieren, bevor Sie in die Therapie können!“, hörte ich immer wieder von Ärzten.
„Das ist mir egal, ich will einfach nur hier rauskommen und gesund werden!“, schrie ich immer wieder. Erst Jahre später erkannte ich, dass ich Geduld brauchte und die Therapien zu späteren Zeitpunkten hilfreicher waren. Es kam alles zu seiner Zeit. Wenn ich vorschnell mein Leben beendet hätte, hätte ich das leider nicht erleben dürfen.
Tabu-Thema brechen
Oft wird das Thema „Suizid“ verschwiegen und die Betroffenheit setzt dann ein, wenn das Raunen in der Klinik die Runde macht: „Da hat sich jemand vom Dach gestürzt.“ Ich frage mich: „Warum sprechen wir nicht früher darüber? Warum werden manche Themen so unter den Teppich gekehrt und wirken dadurch noch viel bedrohlicher?“
Zu guter Letzt möchte ich gleichzeitig eine Einladung fürs Leben und die Auseinandersetzung mit dem Tod aussprechen. Menschen, die so verzweifelt sind und ihr Leben beenden wollen, brauchen eine Ausdrucksmöglichkeit, ohne direkt auf ein panisches Umfeld zu stoßen. Alles, was auf Liebe und Annahme stößt, kann weiterwachsen und wer weiß, ob aus den Dornen noch Rosen wachsen werden.
Mögliche Hilfsangebote findest du bei der bundesweiten Telefonseelsorge (0800 – 1110111 oder 0800 – 1110222), beim Haus- oder Facharzt, in psychologischen Beratungsstellen bei dir vor Ort, in Kliniken mit psychiatrischer Abteilung, bei Ex-In-Genesungsbegleitern, oder in Selbsthilfegruppen. Bei akuter Lebensgefahr lautet die Nummer 112 für den Rettungswagen.
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