Ein revolutionäres Projekt war und ist es: Die EU – ein Zusammenschluss mehrerer Staaten zur Gewährleistung einer besser funktionierenden Wirtschaft und Sicherheit in Europa. Doch der Zusammenhalt bröckelt, die Kritik wird immer lauter. Als Konsequenz hat eine Nation bereits die Klinke in die Hand genommen und ihren Austritt angekündigt. Aber wieso ist es so schwierig ein europäisches Bewusstsein und die Vorzüge der europäischen Union in den verschiedenen Staaten zu verbreiten?
Die EU und ihr starker Gegner
Drei Jahre ist es nun her, seitdem die Briten der EU „Goodbye“ gesagt haben. Nicht nur in Großbritannien kursieren viele Vorurteile über die EU. Einige Mitgliedsländer und ihre Bürger sind unzufrieden. Sie stören sich an den Reglementierungen, die ein besseres Zusammenleben auf unserem großen und vielfältigen europäischen Kontinent sicherstellen sollen.
Als Mitgliedsland der EU überträgt man seine Souveränität zum großen Teil auf eine supranationale Ebene. Das bedeutet, man gibt seine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit teilweise an eine höhere Instanz ab. Die Vorzüge: leichterer Handel über Grenzen hinweg, wirtschaftliche Vorteile, Friedenssicherung, um nur ein paar zu nennen. Doch dem entgegen steht eine Fähigkeit, die in der Natur des Menschen liegt und der EU gefährlich wird. Die Reaktanz.
Euphorie-Welle nach dem Brexit
Als durchaus wichtige Eigenschaft für unser persönliches Wohlergehen sorgt sie dafür, dass wir aufbegehren, wenn wir uns in unserer Freiheit oder Privatsphäre beschnitten fühlen. Wir entwickeln dann eine innere Kraft uns gegen diesen Umstand zur Wehr zu setzen. Oft führt dieses Gefühl dazu, dass wir die Weitsicht verlieren. Wir konzentrieren uns voll und ganz auf das „Jetzt“, in dem wir uns eingesperrt fühlen, ohne einen Blick über den Tellerrand hinweg zu werfen. Dabei kann das der Blick darauf sein, welche positiven Errungenschaften man in der Zukunft aus der Situation ziehen könnte. Das ist ein Grund, der es für die EU so schwierig macht. Es gibt meistens einen, der querschießt.
Doch nach dem Brexit brach eine Europa-Euphorie aus, wie ich sie in meinem bisherigen 24-jährigen Leben nicht erlebt hatte. Unter dem Namen „Pulse of Europe“ gingen auf dem ganzen Kontinent Sympathisanten auf die Straße, um für ein geeintes Europa und für die EU zu demonstrieren. Wo man auch hinkam wehten Europaflaggen im Wind. Mehrmals hörte ich auf dem Bonner Rathausplatz Beethovens Ode an die Freude und sah Gruppen von Menschen gemeinsam singen und tanzen. Nicht nur die Bürger in den Mitgliedsländern, auch ihre Regierungen traten plötzlich geeinter und entschlossener auf als je zuvor. Die Zweifel an dem Einheitsprojekt schienen in den Hintergrund gerückt zu sein. Man war sich einig, die EU und die europäische Zusammenarbeit seien der beste Weg, um ein gutes Leben für die Gesellschaften auf unserem Kontinent sicherzustellen. Geeint und von der Überzeugung des Zusammenhalts getrieben stand man Großbritannien zu Beginn der Brexit-Verhandlungen gegenüber.
Europäische Visionen am Abklingen?
Das war aber noch nicht das Ende von Lied. Mit Emmanuel Macron trat 2017 ein Europa-Visionär an Frankreichs Regierungsspitze. Der bekennender Pro-Europäer mit Elan und Tatkraft schien wie ein Lichtblick für das brüchige Fundament des Zusammenhalts. Plötzlich tauchte ein ganz neuer Ton an der Oberfläche auf. Man hörte Wörter wie „europäisches Militär“, „ein gemeinsames europäischer Budget“ bis hin zu Visionen einer „europäischen Republik“.
Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Ideen. Und Europa befindet sich nach wie vor in einer ungewöhnlichen Situation. Der Brexit ist immer noch nicht über die Bühne gebracht. Staaten wenden sich in ihrer Innenpolitik immer mehr von demokratischen, weltoffenen, europäischen Grundsätzen ab, Nationalismus greift um sich und der Pulsschlag der „Pulse of Europe“-Bewegung scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Jedenfalls vernehme ich keine Gesänge mehr auf dem Rathausplatz und sehe keine blauen Fahnen mehr in den Fenstern. Die europäischen Visionen scheinen in der Schublade gelandet zu sein.
Die Gefahr der Selbstverständlichkeiten
Mich hat sie damals auch gepackt, die blaue Euphorie. Ich war begeistert von dem Gefühl des Zusammenhalts, fühlte mich Teil einer großen, wichtigen Gemeinschaft, die es wert ist, für sie kämpft. Aber halt! Wofür eigentlich? Ich gebe zu, auch ich musste in Sachen Europa erst einmal Nachhilfeunterricht nehmen. Was ich damals von der EU wusste war, gelinde ausgedrückt, bescheiden. Doch je mehr ich erfuhr, je mehr ich las und je mehr ich mit anderen Menschen über unser Europa sprach, desto sicherer wurde ich mir: Die EU ist ein einzigartiges und schützenswertes Projekt, das uns ein Leben in einer grenzübergreifenden Gemeinschaft ermöglicht. Wir können über Grenzen hinweg in (noch!) 28 Staaten leben, lernen, reisen, handeln, ohne große bürokratische Hürden auf uns nehmen zu müssen. Das ist etwas Besonderes! Wir müssen endlich erkennen, dass diese Dinge bei weitem nicht selbstverständlich sind! Ich gebe zu, auch mir fällt es manchmal schwer diese Dinge nicht als natürlich zu betrachten, kann ich mich doch selbst nur noch vage an die D-Mark oder an Grenzkontrollen erinnern. Doch wechseln wir mal die Perspektive:
Selbstverständlichkeiten gibt es kaum noch
In vielen Staaten, gar nicht weit von Deutschland entfernt, finden wir Zensur, Unterdrückung, Wahlmanipulation. Für die Bürger dieser Länder ist unsere Situation etwas Außergewöhnliches! Und doch scheinen uns diese Umstände weit entfernt. Als tauche man bei der Vorstellung, so etwas könne einem auch passieren, in die bedrückende Dystopie eines Fiction-Romans ein. Doch erinnern wir uns mal an frühere Science-Fiction Geschichten, wie „Zurück in die Zukunft“. Kaum vorstellbar für die Menschen der damaligen Zeit, dass sich die Technik jemals so weit entwickeln würde. Und heute: sind die ersten Weltraumreisen für Jedermann geplant oder werden aus winzigen, einzelnen Zellen, ganze Organe gezüchtet. Man sollte sich also nicht auf die eigene Vorstellungskraft oder heutige Selbstverständlichkeiten verlassen. Das was uns wichtig ist, müssen wir jederzeit bewahren und schützen. Selbstverständlichkeiten, gibt es in einer so vielfältigen, pluralistischen Gesellschaft wie heute kaum noch.
Vielfalt, Grenzenlosigkeit, Vernetzung, Pluralismus sind nur einige wenige der Aspekte, die unsere globalisierte Welt heute ausmachen. Nicht nur die EU ist größer geworden, auch ihre und damit unsere Partner verteilen sich mittlerweile über den gesamten Globus. Unsere heutige Gesellschaft bekommt so viele Möglichkeiten sich auszutauschen, dass Grenzen immer mehr zu verschwimmen scheinen, was zahlreiche Vorteile mit sich bringt. Doch jedem Vorteil wohnt meist auch ein Nachteil inne. Grenzenlosigkeit bringt Möglichkeiten.
Aber Grenzenlosigkeit bringt auch Unsicherheit. Gewohntes und Bekanntes verändert sich. Gelebte Traditionen verändern sich. Unbekannte kulturelle Einflüsse erhalten Einzug in unseren Alltag. Wo wird die Veränderung halt machen? Wie kann ich sicher sein, dass die Marker, mit denen ich mich und meine Gesellschaft identifiziere, sich nicht auch verändern? Es stimmt, diese Ungewissheit kann Angst machen. Zwar ist die vor einiger Zeit heraufbeschworene Biedermeier-Generation meiner Meinung nach bisher ausgeblieben, doch muss man sich nur einen Tag die Nachrichten anschauen, um zu erkennen, wie stark der Nationalismus voranschreitet. Er ist kein kurzzeitiges Phänomen, der seinen Grundstein auch nicht erst mit „America First“ legte. Er schwelte schon lange unter der Oberfläche, die immer stärker zu reißen scheint.
Was sagt das über Europas Zukunft?
Nach diesen Entwicklungen kann man ins Zweifeln geraten. Über die Globalisierung. Über die EU. Über den technischen Fortschritt. Und es kann gut sein zu zweifeln. Wenn man zweifelt, denkt man stärker über die Dinge nach, beschäftigt sich mit ihnen und ihren Alternativen. Auch ich habe schon einige Male gezweifelt. Doch je mehr ich mich mit meinen Bedenken auseinandergesetzt habe, desto überzeugter bin ich von der gemeinsamen Zukunft Europas geworden.
Wir Menschen konnten in unseren Anfängen nur in Miniatur-Gesellschaften von maximal 15 Individuen funktionieren. Und heute identifizieren wir uns mit einer ganzen Nation von mehreren Millionen Menschen. Wir haben bereits gezeigt, wie viel Potential in uns steckt, um nicht nur Ländergrenzen, sondern auch unsere mentalen Grenzen zu überwinden.
Als die früheren Menschen zu Beginn des Zeitalters der Nationen und großen Imperien gemerkt haben, wie groß der Nutzen ist, den sie aus dieser neuen Lebensweise erhalten, haben sie es geschafft sich dem anzupassen. Wieso also sollten wir dazu nicht ein weiteres Mal in der Lage sein?
Das kann anfangs beängstigend sein, doch die „Pulse of Europe“-Bewegung hat bereits gezeigt, dass es möglich ist, große Teile der EU zu mobilisieren und für die Ideale und Träume einzustehen, die sie verkörpert.
Man muss unüberschaubare, neue Dinge an die Menschen herantragen, man muss sie erklären und erfahrbar machen. Man muss gemeinsame Identitätsmerkmale erschaffen und diese verbreiten. Dann wird das Unüberschaubare übersichtlich. Dann wird aus Unsicherheit Bekanntes. Ich glaube fest an das Projekt EU und ich hoffe, dass viele meine Hoffnung teilen. Gemeinsam haben wir die Möglichkeit, gegen den grassierenden Nationalismus einzutreten, und das Bewusstsein dafür zu stärken, dass wir eine europäische Gesellschaft sein können.
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