Wenn ein Mensch seinen letzten Atemzug gemacht hat, begibt sich nach den Vorstellungen einiger seine Seele auf eine Reise ins Ungewisse. Die körperlichen Überreste folgen dem Gang alles Irdischen. Rund zwei Stunden nach dem Tod setzt die Totenstarre ein. Zunächst in den Augenliedern und im Kiefer, wenig später folgt der Rest des Körpers. Grund für den Prozess ist das Molekül ATP (Adenosintriphosphat), das nach dem Ableben zerfällt und so den Muskeln die Möglichkeit nimmt, sich zusammenzuziehen.
Etwa drei Tage später löst sich die Starre und es beginnt der Prozess der Selbstauflösung. Fäulnis und Verwesung, bei Sauerstoffzufuhr, zersetzen den Leichnam innerlich. Beim Abbau der Körpersubstanzen entstehen Gase wie Schwefelwasserstoff, Ammoniak und Methan. Zugleich verfärbt sich der rechte Unterbauch grüngelb. Die Bakterien im feucht-warmen Magentrakt arbeiten verstärkt – die Gedärme blähen sich auf. Bleibt eine Leiche bei passenden Bedingungen länger unentdeckt, beginnen sich nach etwas mehr als einer Woche auch Larven in den Körperhöhlungen zu bilden. Der Entwicklungsstatus dieser kleinen Tiere ermöglicht Forensikern rückwirkend den Todeszeitpunkt einzugrenzen.
Die Angst vor der Wahrheit
Selbstverständlich hört für viele Angehörige das Interesse am biologischen Zersetzungsprozess sehr früh auf. Schließlich handelt es sich bei dem Menschen, über den hier gesprochen wird, um einen Freund oder Verwandten. Man will sich einfach nicht vorstellen, wie dieser Mensch, der einen über Jahre begleitet hat, am Ende seines Lebens dem Tod übergeben wird. Es sind die freudigen Gesichtszüge beim gemeinsamen Lachen und Feiern, die Angehörige in Erinnerung behalten möchten und nicht der insektenzerfressene Leichnam.
Glücklicherweise kommt es in den meisten Fällen auch nicht zu diesem schrecklichen Anblick. Bei normalen Beerdigungen werden die Verstorbenen von den Bestattern zunächst auf rund acht Grad Celsius heruntergekühlt ehe sie für den letzten Auftritt im offenen Sarg „herausgeputzt“ werden. Durch die niedrige Temperatur wird die Arbeit von Bakterien und chemischen Prozessen deutlich verlangsamt.
Erbarmungslos ehrlich
Als Trauernder ist die Beerdigung die letzte Möglichkeit sich zu verabschieden. Dabei ist der Tod in seiner Funktion als natürlicher, stetiger Fortschritt ein Gradmesser der Gefühle. Es ist erstaunlich, wie sehr sich zwei Beerdigungen voneinander unterscheiden können. Während ich auf der ersten Beisetzung eines Familienangehörigen ein wenig Trauer gefühlt habe, allerdings nicht sonderlich betroffen war, änderte sich die Situation ein halbes Jahr später deutlich. Ich saß in einer kleinen Kapelle in der ersten Reihe und in meinem Kopf schwirrten Gedanken, Erinnerungen und Bilder herum. Gemeinsame Momente erlebte ich ein zweites Mal. Die Worte des Pfarrers verhallten im Hintergrund. Gedämpft. Schwach.
Ich wollte vor zum offenen Sarg. Ein letztes Mal den geliebten Menschen erkennen. Doch es ging nicht. Die Gefühle übermannten mich. Aufgelöst rannte ich aus der Kirche. Rennen und schreien – nur das konnte mir helfen. Damals hat sich für mich gezeigt, was der Tod ist: Der Tod ist die letzte Instanz der Liebe. Er durchbricht die Lügen und offenbart die Wahrheit. Er zeigt auf, wie wir wirklich denken und fühlen. Er ist mächtig, der Tod, und freundlich. Weil er ein letztes Mal alle Empfindungen freisetzt.
Individualität im Tod
Diese Emotionen werden mit der Zeit immer schwächer, weil sich die Verstorbenen gegen den stressigen Alltag nicht durchsetzen können. Urnen oder Gräber geben den Angehörigen die Möglichkeit, sich von Zeit zu Zeit mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie dienen als Anhaltspunkte und Reiseportale, die für wenige Momente die Vergangenheit wieder lebendig machen. Doch in Deutschland wächst in den vergangen Jahren der Trend zum Individualismus im Tod. Erd- oder Feuerbestattungen sind für einige Individualisten nicht mehr genug. Die Einzigartigkeit des Lebens wird vom Diesseits mit ins Jenseits genommen. Immer mehr Menschen wollen ihre letzte Ruhe in einem Friedwald zwischen Bachläufen verbringen oder über dem offenen Ozean verstreut werden. Andere lassen die Überreste zu einem Schmuckstück pressen.
Gemeinsam haben all diese neuen Bestattungsformen eines: Sie verwehren den Angehörigen größtenteils die Gedenkkultur. Es gibt nicht mehr den einen Bezugspunkt. Man kann nicht mehr zum Grab gehen und sagen: Hier liegt mein verstorbener Onkel. Stattdessen schwebt man in der Ungewissheit. Der Individualismus entreißt uns die Möglichkeit sich wieder und wieder zu verabschieden. Allerdings dürfen die Trauernden ihren Egoismus nicht über den Wunsch des Verstorbenen stellen. Es war sein letzter Wille. Und irgendwann sind wir alle wieder vereint. Im Tod.
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