Es war ein Tag, wie so viele in letzter Zeit. Ein Tag, an dem nichts zusammenzupassen schien und das Pech mich durch den Alltag hindurch verfolgte. Ich war fest entschlossen, mich nach dem Interview am späten Nachmittag ganz meinem Stimmungstief hinzugeben und im Selbstmitleid zu versinken. Doch dann kam alles anders…
Es ist ein kalter Herbstnachmittag im Oktober, eigentlich typisch für diese Jahreszeit. Die Sonne hat sich in stumpf-graue Wolkengewänder gekleidet und macht sich bereit für den Winter. Mit eiskalten Fingern drücke ich die schwere Tür zu einem Wohnheim in Aachen auf. Ich betrete einen langen Flur und öffne die Tür, welche mich in das Zimmer von Vincent geleitet. Ein verschmitztes Lächeln, schelmisch zugleich mit einer so natürlichen Offenheit, wie man sie heute nur selten erlebt, begrüßt er mich und erhellt das gemütliche Zimmer, das an diesem trüben Herbsttag in schlichtes Grau getaucht ist.
„Viele unterschätzen mich, weil ich im Rollstuhl sitze. Ich weiß, dass ich mich mehr durchkämpfen muss als andere, aber genau das gibt mir den Ansporn, mich nicht zu schonen, sondern sofort und noch mehr anzupacken.“ Das Lächeln ist keinesfalls gewichen, doch eine kleine Prise Ernsthaftigkeit hat sich über sein leicht braunes Gesicht gelegt und lässt seine bislang durchgehend sichtbaren Grübchen verschwinden. Seine tiefbraunen Augen beginnen, das Fenster links von mir zu fokussieren, sein Blick scheint für einen Moment ins Leere zu gehen und mit seiner großen Hand fährt er über die dunklen Bartstoppeln an seinem runden Kinn. Er kommt gerade vom Schwimmtraining, seine schwarzen, kurzen Haare schimmern leichtfeucht im elektrischen Licht. Nach seiner Arbeit in der Druckerei kann er sich dort „auspowern“.
„Luft nach oben ist immer“
Plötzlich wendet er sich mir wieder zu, seine Mundwinkel weiten sich etwas und die fast schon vergessenen Grübchen werden wieder sichtbar. Er beginnt zu erzählen. Erst vorletzte Woche hat er bei einem Schwimmwettkampf sein Können unter Beweis gestellt – auch gegen Sportler ohne Handicap, so bezeichnet er die Menschen, die keine Behinderung haben. „Ich war mit meiner Leistung schon ganz zufrieden, aber Luft nach oben ist immer“, gesteht mir Vincent, als ich ihn nach seinem Abschneiden frage. Und auch hier, wie in so vielen seiner Aussagen, sticht eine Maxime heraus: „Leben heißt nicht immer zu gewinnen, sich hängen zu lassen gilt trotzdem nicht!“
Er scheint noch einmal kurz seine Aussage zu reflektieren und kleine Falten bilden sich an seiner ansonsten glatten und leicht glänzenden Stirn. Er hält inne, fährt dann aber fort: „Ich habe mein Handicap akzeptiert, ändern kann ich es nicht. Ich verstehe nicht, warum manche Menschen Momente des Unglücks durchleben. Natürlich wechseln sich gute und schlechte Phasen im Leben ab, wichtig ist nur, dass man sich wieder aus Eigenantrieb an die Lebensoberfläche bringt.“ Denn es gibt immer mehr Schatten als Licht im Leben, wichtig ist nur, dass man die Plätze, die Refugien im Licht gefunden hat.
„Viele Dinge, die ich kann, kann er nicht“
Er beginnt von seinem Zwillingsbruder zu erzählen, der kein Handicap hat: „Er ist ein Teil von mir…“, und das von mir fast schon vermisste schelmische Lächeln überzieht wieder sein Gesicht, „… aber viele Dinge, die ich kann, kann er nicht.“ Seine Augen beginnen auf einmal zu funkeln, als er nach seinen Wünschen, nach seinen Träumen befragt wird: „Ich möchte lesen lernen, um endlich alleine die Spielberichte der Alemannia Aachen zu lesen – denn dieser Verein ist ein Teil meines Lebens, weil er Seele hat. Und das ist heutzutage leider zu einer Seltenheit geworden.“ Seit einiger Zeit nimmt er bei einer Deutschlehrerin Unterricht.
Hier werden aus einzelnen aneinandergereihten Buchstaben Worte, und bald sollen daraus Informationswelten entstehen, die ihn noch ein Stück selbständiger machen werden, ihn eintauchen lassen in die Welt der bedruckten Papiere. Vincent geleitet mich zur Eingangstür des Wohnheims, deren Schwere mich schon beim Eintritt überrascht hat, und öffnet sie sitzend mit einem beherzten Ruck. Er bemerkt meinen verdutzten Blick und erwidert: „Ob Situationen ein Hindernis darstellen oder nicht, kann jeder selbst für sich entscheiden. Letztlich ist es einfach alles eine Frage der Sichtweise.“
Lernen, im Regen zu tanzen
Das Gespräch ist vorbei, ich habe mich von Vincent verabschiedet, ein kalter Wind bläst mir ins Gesicht und seine letzten Worte gehen mir durch den Kopf: „Ich hoffe, ich kann den Lesern etwas weitergeben: Nämlich, das alles im Leben machbar ist, wenn man es nur will.“ Ich lasse dieses wunderbar sonderbare Gespräch Revue passieren und denke mir: Dieser Mensch hat nicht gewartet, bis der Sturm vorüberzieht, sondern gelernt, im Regen zu tanzen. Und auf einmal sind all die Dinge, über die ich mich zuvor noch aufgeregt habe, Nichtigkeiten, sind verpufft, haben sich in Luft aufgelöst und ich frage mich: Warum ärgern mich überhaupt Kleinigkeiten?
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