Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zählen zu den zentralen Grundprinzipien der Europäischen Union. Was passiert aber, wenn Mitgliedsländer immer mehr zu autokratischen Systemen mutieren? Ein Blick nach Ungarn und Polen.
Frieden. Gleichheit. Demokratie. Rechtsstaatlichkeit. Die Grundprinzipien der Europäischen Union sind klar definiert. Damit steht die EU nicht bloß für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, sondern gleichermaßen für eine Wertegemeinschaft. Um als Land in die EU aufgenommen zu werden, müssen diese Werte auf jeden Fall in der Gesellschaft verankert sein. Keine Rechtsstaatlichkeit, kein Beitritt. Dass somit alle Mitgliedsstaaten völlig demokratisch sind, liegt nahe. Falsch gedacht. Ein Bericht der EU-Kommission zur Lage der Rechtsstaatlichkeit weist in einigen Mitgliedsstaaten auf schwerwiegende rechtsstaatliche Mängel hin. Zwei Länder schneiden besonders schlecht in Sachen demokratische Grundwerte ab: Ungarn und Polen.
Dass diese beiden Länder den Grundprinzipien der EU nicht gerecht werden, ist allerdings keine Neuigkeit. Seit Jahren laufen Vertragsverletzungsverfahren wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Rechtsstaatlichkeitsprinzip. Das Resultat? Keine Besserungen. Im Gegenteil. Von Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und einer ausgewogenen Medienlandschaft kann man in Ungarn schon lange nur noch träumen. Jetzt wurden sogar die letzten demokratischen Überreste beseitigt. Freie Medien und Meinungsfreiheit gibt es de facto nicht mehr. Eine unabhängige Justiz genauso wenig. Ähnlich sieht es in Polen aus.
Sanktionsmöglichkeiten seitens der EU
Diese Tendenzen sind definitiv keine neuartige Entwicklung. Wieso hat eine so große Vereinigung, wie die EU, es also nicht geschafft, diese Missstände bereits zu beseitigen? Ist die EU in der Situation machtlos? Nein. Vielmehr steckt sie in einer Zwickmühle. Die Optionen reichen von einer Kürzung von EU-Geldern, Vertragsverletzungsverfahren mit entsprechenden Geldstrafen bis hin zu Rechtsstaatlichkeitsverfahren – die Erhöhung des öffentlichen Druckes seitens der Bevölkerung und der Medien ist hierbei zentral.
Kommt das härteste Mittel zum Einsatz, könnten die betroffenen Länder sogar ihr Stimmrecht verlieren. Ein effektiver und schneller Weg, die Staaten zu bestrafen, wie es scheint. So simpel ist das Ganze jedoch nicht. Durch einen Stimmrechtsentzug beziehungsweise einen kompletten Ausschluss aus der EU würden die Menschen in den betroffenen Ländern ihrem Schicksal überlassen werden. Die EU stellt die letzte Hoffnung dieser Menschen auf eine baldige Besserung dar. Dieser Rolle will die Europäische Union nun auch nachkommen.
Nach jahrelangen Verfahren hat die EU jetzt eine vielversprechende Lösung ausgeklügelt: Die Auszahlung von EU-Geldern soll in Zukunft an die Rechtsstaatlichkeit der entsprechenden Länder geknüpft sein. Sieht so aus, als würde die EU die Situation bald wieder unter Kontrolle bekommen. Wären da nicht noch Polen und Ungarn. Jegliche Anschuldigungen zu fehlender Rechtsstaatlichkeit seien unberechtigt. „Bei Ungarn handele es sich um einen Rechtsstaat“, so der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Im Falle einer derartigen Regelung kündigten die betroffenen Staaten an, dem Finanzplan der EU für 2021 bis 2027 nicht zuzustimmen.
Stattdessen wollen sie ihr Veto einlegen und den Plan für das Budget blockieren. Dass das äußerst undemokratisch ist, steht außer Frage. Wie kann es sein, dass zwei Länder stärker wiegen als die restlichen 25 Mitgliedsstaaten? Die Antwort darauf liefert das Einstimmigkeitsprinzip der EU. Demnach können wichtige Entschlüsse nur unter Konsens aller 27 Mitgliedsstaaten gefällt werden.
Gefährdet das Einstimmigkeitsprinzip die Demokratie ?
Ohne Frage: Die Lage der EU in der Rechtsstaatlichkeitskrise von Polen und Ungarn ist äußert schwierig. Fragwürdig ist es dennoch, dass Staaten, die mit Demokratie nur wenig zu tun haben, vollwertige Mitglieder der Europäischen Union sind – einer Vereinigung, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit großschreibt. Könnte dann nicht auch das ein oder andere Auge bei potentiellen Beitrittsländern zugedrückt werden? Die Kopenhagener Kriterien als bloße Richtlinie angesehen werden? Der richtige Ansatz wäre das selbstverständlich nicht. Vielmehr sollte das Einstimmigkeitsprinzip in einer Vereinigung, die so viel Wert auf Demokratie legt, überdacht werden. Denn demokratisch ist das nicht.
Im Gegenteil. Für die EU wird es zunehmend zur Herausforderung, Sanktionen zu verhängen. Für Polen und Ungarn hingegen zur Leichtigkeit, wichtige Entscheidungen zu blockieren und autokratische Tendenzen weiter auszubauen. Unausgewogene Machtverhältnisse galt es nicht nur im eigenen Land, sondern auch in der Europäischen Union zu demonstrieren. Dass es dazu kommen konnte, ist allerdings der EU selbst zuzuschreiben.
Karl
Und wieder ein ausgezeichneter Artikel