Regula Wolf ist Sternenkindfotografin. Mit ihrer Arbeit möchte sie Eltern ein letztes Andenken an ihr Kind geben und ihnen auf diese Weise helfen, Abschied zu nehmen. Unsere Autorin Michaela hat mit ihr gesprochen.
“Jedes Leben besteht aus einer Kette von Reisen. Die Länge der Kette können wir allerdings nicht selbst bestimmen. Manche Kette hält wenige Wochen, eine andere ganze Monate und die nächste vielleicht viele Jahrzehnte. Dennoch kann auch eine kurze Kette viele Reisen bündeln. Wir möchten, dass Ihr Kind nicht nur im Gedächtnis bleibt, sondern auch in greifbaren Objekten auftaucht.”
– Kai Gebel – Initiator –
Regula Wolf ist Fotografin und seit 2017 als Mitglied der Stiftung „Dein Sternenkind“ (DSK) als „Sternenkindfotografin“ im Einsatz. Stets in Rufbereitschaft für einen Einsatz, hat sie ihre Kamera immer mit dabei. „Wenn das Handy schrillt, lasse ich alles stehen und liegen und schaue nach, was gefordert ist – Tag und Nacht.“ Mit ihrer Arbeit beschenkt sie jährlich rund 50 Eltern, die um ihr Baby trauern, das aus den unterschiedlichsten Gründen viel zu früh wieder gehen musste oder das Licht der Welt gar nicht erblicken durfte.
Insgesamt hat die Stiftung und ihre mittlerweile ca. 550 Fotografen seit 2016 über 12.200 Kinder fotografiert. Ein Einsatz reicht vom Fotografieren über die Nachbearbeitung bis hin zum persönlichen Päckchen für die Eltern mit den wertvollen Erinnerungen, festgehalten, um manchmal auch erst Jahre später geöffnet zu werden. Das Motto von DSK ist dabei „das Unfassbare greifbar machen“ – damit man es verarbeiten kann.
Gründer des Netzwerks Kai Gebel hat mit seiner Leidenschaft viele angesteckt – und damit auch ein Tabu gebrochen. Bis 2013 gab es noch Regelungen, die manche Sternenkinder nicht als Person definiert hätten und ihnen somit das Anrecht auf Bestattung und einen würdigen Umgang verweigerten. Gebel hat erreicht, dass man über Sternenkinder spricht und es kein Problem mehr ist, sie zu fotografieren. 2021 wurde ihm das Verdienstkreuz am Bande verliehen.
Gut zu wissen: Sternenkindfotografen gibt es auch in Österreich und der Schweiz – oft sind die Krankenhäuser auch darauf vorbereitet und können den Kontakt herstellen. Der Dienst ist übrigens kostenlos. Auf der Website „dein-sternenkind.eu“ heißt es: „Unsere Fotografen tragen alle Kosten selbst. Es ist ein rein humanitäres Geschenk des Fotografen an die Sternenkindeltern.“ Wir haben mit Frau Wolf über die besonderen Momente in ihrem Ehrenamt bei DSK gesprochen.
Liebe Frau Wolf, „Sternenkinder“, das ist ein sehr hoffnungsvolles Wort. Dabei ist das Schicksal dieser Kinder zutiefst traurig …
Fehlgeburten und Stille Geburten waren und sind zum Teil immer noch ein Tabuthema. Sternenkinder hatten lang kein Anrecht auf einen Namen und eine Geburtsurkunde und somit auch kein Anrecht auf Bestattung. Das sogenannte Personenstandsgesetz regelt, dass Eltern eine Geburts- und eine Sterbeurkunde mit nach Hause nehmen können und ihr Kind beerdigen können.
Wichtig ist, dass Eltern Abschied nehmen können und neben dem Privaten auch die Öffentlichkeit mit einbezogen werden kann. Oft sind Sternenkinder auch in Familienbüchern eingetragen, als Person anerkannt, das ist wichtig. Für die Eltern ist es ein Schock, ein Kind zu gebären, das nicht lebt, doch es ist trotzdem ihr sehnlich erwartetes Kind.
Der Begriff „Sternenkind“ ist für mich kein fremder Gedanke – Wo sollten wir sie auch sonst verorten? Es ist schön, anzunehmen, dass sie dort oben sind und auf uns aufpassen. Eine Bestatterin sagte mir einmal mit ihrem toten Kind im Arm: „Ich bin ganz sicher, diese Kinder gehen ins Licht und wo sie hingehen, ist es warm, sie gehen ganz leicht, sie haben diese Bodenhaftung von Menschen mit längerem Leben nicht.“
Sie selbst haben entschieden, den Eltern mit ihren Fotos ein letztes Andenken an ihr Kind zu geben. Wie kamen Sie auf die Idee zu dieser doch sehr schwierigen, traurigen Arbeit?
Ich habe einmal ein Interview gelesen mit einem Sternenkindfotografen. Bereits nach der 3. Frage wusste ich, dass ich das auch machen möchte. Das ist wie eine Aufgabe, die dich findet, das sucht man sich nicht aus.
Es stimmt, es ist ein trauriger Anlass und furchtbar belastend für die Eltern. Man weiß: Das wird immer ein Teil ihrer Geschichte sein und sie womöglich jahrzehntelang verfolgen. Doch ich bin auch überzeugt, dass man helfen kann, das Ganze in eine positive Richtung zu formen. Aus der Traumatherapie weiß man, dass es wichtig ist, etwas anzufassen, um es zu begreifen, im wahrsten Sinne des Wortes, etwas festzuhalten mit den Händen und den Augen.
Vor allem Erinnerungen an hochemotionale Momente verändern sich noch schneller, sind oft trügerisch und äußerst belastend. Sie verblassen mit der Zeit und verändern sich, da unser Gehirn in so einer emotionalen Ausnahmesituation vieles des Gesagten und Erlebten verdrängt, manchmal sogar verzerrt. Die Fotos hingegen sind real und lügen nicht, sie halten das Unfassbare fest. Man kann sie aufstellen, immer wieder hinschauen. Das hilft beim Aufarbeiten, selbst wenn es erst Jahre später wirklich geschieht. Das sind so kostbare Momente: Man fotografiert ja auch bei einer Hochzeit sämtliche Details, um sich später noch einmal daran zu erinnern.
Sie haben selbst zwei Sternenkinder. Belastet Sie es dann nicht umso mehr, die Trauer von anderen Eltern nochmals hautnah mitzuerleben?
Meine Sternchen sind schon ganz klein gegangen, da gab es noch nichts zu fotografieren. Natürlich musste auch das verarbeitet werden, doch ich verbinde das nicht mit meinen Arbeitseinsätzen. Ich kann mich gut in sie hineinfühlen, aber es gibt auch Männer, die da eine sehr tolle Arbeit machen. Für mich sind die Eltern Fremde (und ich für sie). Ich komme mit der Kamera und dem professionellen Anspruch, die besten Bilder zu machen, die sie bekommen können. Eltern melden sich manchmal auch Jahre später noch und sind einfach dankbar; deswegen ist es für mich auch keine Belastung, ich habe die Möglichkeit, mit ihnen gut umzugehen und ihnen zu helfen.
Wie läuft so ein Einsatz ab? Was ist dabei wichtig?
Eltern oder Hebammen bzw. Pflegende fordern einen Fotografen/eine Fotografin an. Die Koordinatoren von „Dein Sternenkind“ (DSK) vermitteln und beachten dabei besonders den Schutz sensibler Daten. Wurde ein erster Kontakt hergestellt und alle Details geklärt, besucht die Fotografin oder der Fotograf Eltern und Kind. In der Begegnung und beim Fotografieren ist viel Fingerspitzengefühl gefragt: Wichtig ist der empathische Umgang mit den Eltern, die gerade ihr sehnlichst erwartetes Kind wieder lassen müssen…
Ich sage den Eltern immer: „Ich fotografiere, solange ihr mich aushaltet und schickt mich weg, wenn es nicht mehr geht“ – manche sagen nach 20 Bildern: „Es reicht, danke“, weil sie es nicht aushalten, die Situation zu belastend finden. Das ist dann auch okay.
Manche Eltern müssen erstmal ihr Kind zeigen und erzählen, dann kann es auch passieren, dass ich schon zwei Stunden da bin und noch keine Fotos gemacht habe. Besonders seit Corona ist es so, es klopft niemand an und tröstet, keine Eltern oder Großeltern – jetzt bald wird es wieder möglich.
Fehlen Ihnen, gerade in Momenten der Trauer, nicht auch manchmal die Worte?
Jeder Einsatz ist anders, manchmal muss man gar nichts sagen. Die Eltern agieren allein, die meisten konnten sich ein bisschen auf den Verlust ihres Kindes vorbereiten, bei einer normalen Geburt passiert es selten, dass ein Kind nicht überlebt. Häufiger befassen sich Eltern mit dem Gedanken, dass sie ihr Kind gehen lassen müssen, nach einer Pränataldiagnostik oder wenn zu wenig Fruchtwasser da ist. Es kommt aber auch vor, dass ein Kindchen direkt im Mutterleib verstirbt, man weiß den Grund dazu nicht – die Eltern sind unvorbereitet – und können zunächst nicht darüber reden. Da gibt es zu viel Trauer zu bewältigen und ganz unterschiedliche Reaktionen. Auch hier ist Hilfe sehr wichtig – und sei es ganz ohne Worte.
Worauf achten Sie, wenn Sie solche Momente in Bildern festhalten?
Für mich ist Reportage wichtig, das heißt, ich versuche, nicht nur Fotos zu machen, ich versuche, eine Geschichte zu erzählen. Manchmal sind die Eltern aber auch nicht dabei, sie möchten nur die Fotos vom Kind, aber wenn sie dabei sind, möchte ich festhalten, wie sie mit dem Kind agieren, auch ein bisschen Bewegung festhalten, damit es echt aussieht; Emotionen und Gefühle festhalten. Ich mache auch nicht nur fünf Fotos, schön drapiert und eingepackt. Der Moment, wenn das Kind ein Küsschen bekommt – alles ist so wertvoll, es sind ja die einzigen Stunden, die sie zusammen haben.
Ich begrüße das Kind mit Namen (und verabschiede mich auch später, wünsche ihm eine gute Reise), spreche auch mit ihm, wie die Eltern: „Das ist deine Schokoladenseite, komm wir legen dich mal so hin…“ Da habe ich keine Berührungsängste, weder mit den Kindern noch mit den Eltern. Letztere spüren: unser Kind wird wahrgenommen – sie sind ja schließlich Eltern geworden.
Welches Foto ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Es war ein Einsatz bei einer Familie, die bereits sechs Kinder hatte. Als klar war, dass das 7. nicht lange leben würde, durften sie es mit nach Hause nehmen, da die Kinder nicht mit in die Klinik gedurft hätten. Es war schön zu sehen, wie es sein kann, wenn man als ganze Familie darauf vorbereitet ist, auch die anderen Kinder und wie sie das Kleine einfach geherzt haben. Ich habe eigentlich gar nichts gemacht, nur fotografiert. In dem Fall waren es über 1.000 Bilder – das kommt dann aus der Situation. Ich hatte auch sehr viel Zeit, war vier bis fünf Stunden dort und konnte bewegende Fotos machen.
Wie erleben Sie die Eltern, die Ihre Fotos nun greifbar vor sich haben und nicht nur als Erinnerung bewahren?
Wir verpacken die Bilder in Ordner, CD oder Stick, sortiert nach „Farbe“ und „schwarz-weiß“, ich lasse ein Büchlein drucken und schicke den Eltern ein Paket, das manche erst Jahre später aufmachen, wenn sie bereit dafür sind. Andere fragen auch direkt nach den Bildern, weil sie sie sehen wollen.
Eltern kommen manchmal auch Jahre später noch auf mich zu und sind einfach dankbar. Es gibt auch Eltern, die ich öfters besucht habe – während der Einleitung bis hin zur Bestattung. Und in Corona-Zeiten, wo keine Oma in die Nähe darf, wurde ich auch schon mal „Ehren-Oma“. Manche kann man leichter loslassen, es sind ja eigentlich fast immer Fremde, die uns da begegnen, doch die Erinnerung an sie geht nie vorbei.
Mein erster Einsatz war bei sehr traumatisierten Eltern. Ich habe geklopft, eine Stunde fotografiert und bin wieder gegangen. Die Eltern haben sich immer wieder bei mir gemeldet. Da sie in der Nähe wohnten, habe ich ihnen die Bilder persönlich vorbeigebracht. Wir haben zusammen Tee getrunken und sie haben einfach geredet. Ich wusste: ich soll einfach machen, was mein Bauch mir sagt.
Wie kann man trauernden Eltern in einer solchen Situation Ihres Trauerprozesses helfen?
Seelsorgeangebote gibt es viele: von der Klinik über kirchliche Seelsorge und viele andere Angebote bis hin zu Trauerkreisen – je nach Typ der Eltern sollte etwas dabei sein. Nicht jedes Angebot ist für jeden geeignet. Die Eltern müssen spüren: Wo fühlen wir uns aufgehoben? Es gibt sog. „Sternenflügelbegleiter/innen“, viele Ehrenamtliche, die Hilfestellung leisten. Wenn Eltern mich fragen, was sie jetzt machen sollen, sage ich ihnen: „Nehmt die Hilfe an, die ihr bekommen könnt, die euch angeboten wird.“
Aber auch darüber hinaus haben wir leider verlernt, über den Tod zu sprechen – Wir überlassen das lieber den Profis, dabei kann jeder zuhören und auch als Laie ein Gespräch anbieten. Ein einfaches: „Wie geht’s euch?“ darf man immer fragen und dann die Ohren aufsperren, die Geschichten anhören, die kommen. Man darf auch sagen: „Erzähl‘ mir deine Geschichte, ich höre dir zu.“ Das Schlimmste als Freund, als Oma, als Opa ist, wenn man so tut, als wäre nichts passiert. Man kann sein Mitgefühl ausdrücken: „Es tut mir auch weh, es tut mir auch leid.“ Man darf sie fest in den Arm nehmen, wie man das auf einer Beerdigung sonst auch tut. Die Eltern wollen wahrgenommen werden und zwar als das was sie sind: Eltern, deren Kind nicht mehr lebt – egal, wie alt das Kind war.
Eine Frau sagte mir einmal: „Das Schlimmste für mich ist, dass ich Freunde verloren habe.“ Da wird einfach die Straßenseite gewechselt, das finde ich tragisch. Man darf ganz normal mit ihnen umgehen. Man muss auch überhaupt keine Tipps geben, man kann für sie einkaufen, Abendbrot machen, die ersten Hürden nehmen, dass sie nicht sofort wieder unter Leute müssen, eine Stütze sein. Man kann einen Kuchen oder Blumen vorbeibringen und klingeln, sich Zeit nehmen und einfach da sein, zuhören. Wenn ein Erwachsener stirbt, nimmt man sich ja auch die Zeit, miteinander zu reden. Und das darf und sollte man auch mit den Eltern der Kindchen machen. Manchmal hilft einfach nur zuhören, man braucht nicht in Panik ausbrechen.
Hat sich Ihr Bild vom Leben und der Schönheit des Lebens, angesichts von Tod und Trauer, durch diese Arbeit verändert?
Eigentlich nicht, aber es hat mich ein bisschen stärker gemacht, in gewissen Dingen bewusster. Ich glaube zwar nicht an ein Leben nach dem Tod, aber es fühlt sich trotzdem für mich nicht endgültig an, ich kann es Ihnen nicht einmal erklären. Es hat mir gezeigt, dass man auch in schweren Situationen schöne Bilder machen kann.
Es hat meinen Blick auf den Umgang mit dem Darstellen auf Social Media von dem, was man erlebt, verändert. Selbstdarstellung – ist das wirklich so wichtig? Ich reflektiere das definitiv bewusster. Ich sehe diese Aufgabe als Verpflichtung: Solange ich es kann und weil ich es kann, will ich es machen. Ich war mal bei einer Gasexplosion dabei und konnte nicht helfen – dieses Gefühl war schrecklich. Ich habe mir damals geschworen, nie wieder so hilflos zu sein – und deshalb, wann immer ich die Möglichkeit habe, auch nur eine Kleinigkeit zu tun, will ich es machen. Das treibt mich an. Ich kann da sein in einer Notsituation, das ist ein tolles Gefühl und hat mich definitiv stärker gemacht.
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