Die aktuelle Invasion der Ukraine, forciert durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin, erschüttert mich in zweifacher Hinsicht: Es ist der erste Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, und betroffen ist ein Land, das ich bereits drei Mal selbst besuchen und ins Herz schließen durfte.
2015 war ich zum ersten Mal in der Ukraine, damals als Praktikant der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ). 2018 und 2019, inzwischen als Mitarbeiter der KSZ, war ich ein zweites und drittes Mal dort. Ich durfte also ein Land bei meinen Besuchen vor Ort kennenlernen, auf das heute Raketen einprasseln, in dem Menschen in einem sinnlosen, unentschuldbaren Krieg leiden und sterben müssen.
“Christliche Friedensethik darf kein naiver Radikalpazifismus sein”
Für mich als christlichen Sozialethiker zeigt sich aktuell ganz deutlich: Christliche Friedensethik darf kein naiver Radikalpazifismus sein, der Kriegen und Gewalt freien Lauf lässt. Wer Unrecht erleidet, muss auch im Sinne von Notwehr um Gerechtigkeit kämpfen.
Die Notwendigkeit von Verteidigung rechtfertigt die Existenz von Streitkräften für den Dienst am Frieden, denn angegriffene Staaten haben das Recht und die Pflicht, sich als letztes Mittel auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Leider ist nun für die Ukraine diese Situation eingetreten. Es ist eine schreckliche Tatsache, an die ich bei meinem letzten Besuch vor Ort nicht gedacht hätte, dass sie hier einmal eintreten wird.
Wir sind ein internationales Team von Sozialethikern von der Ludwig-Maximilians-Universität und der KSZ sowie von Wissenschaftlern verschiedener Fachdisziplinen der Universität Uzhgorod. Auf diesen Tagungen durfte ich Wissenschaftler aus der ganzen Ukraine kennenlernen. Um diese unsere Kollegen und Kooperationspartner aus der Ukraine mache ich mir nun große Sorgen. Ich bin in Gedanken und Gebeten bei ihnen.
In dem gemeinsamen Projekt haben wir das Konzept einer proaktiven Toleranz als einem Weg zum Frieden entwickelt. Es handelt sich dabei um ein Verständnis von Toleranz, bei dem es nicht allein darum geht, andere Meinungen zu dulden oder für Meinungsfreiheit und Individualität zu kämpfen. Wir verstehen es als eine Haltung der grundsätzlichen Wertschätzung von Pluralität und Vielfalt. Von kultureller, religiöser und konfessioneller Vielfalt ist insbesondere die westukrainische Region Transkarpatien geprägt. Nun ist all dies gefährdet.
Angesichts der aktuellen Invasion Putins von Toleranz zu sprechen, erscheint höchst unangemessen. Dabei haben wir im Rahmen unserer Projektarbeit immer betont, dass Toleranz gerade nicht als Befürwortung einer Appeasement-Politik missverstanden werden darf. Aggressiv-intolerantes Verhalten kann gerade nicht toleriert werden. Das gemeinsame Nachdenken über proaktive Toleranz bleibt dennoch wichtig. Sie kann einen Beitrag dazu leisten, ein aktiv-tolerantes Miteinander und einen friedlichen Dialog zwischen Vertretern verschiedener Gruppen der ukrainischen Gesellschaft zu fördern. Sobald in die Ukraine wieder Freiheit und Frieden einkehren. Hoffentlich.
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