Vom 8. September bis 10. September veranstaltete der mittendrin e.V. in Köln den Fachkongress „Eine Schule für alle. Inklusion schaffen wir“. Dort gab es in Workshops, Vorträgen und Podiumsdiskussionen zahlreiche Informationen über den Stand und die Entwicklungen der inklusiven Bildung in Deutschland. Andrea Schöne war für f1rstlife dabei.
Inklusion ist in aller Munde. Menschen mit Behinderung haben durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) das Recht erhalten, in alle Lebensbereiche in die Gesellschaft einbezogen zu sein, gleichberechtigt und frei von Diskriminierung. Die Bundesrepublik Deutschland hat im internationalen Vergleich für die Teilhabe behinderter Menschen große Defizite. Besonders im Bereich Bildung.
Vielerorts bildeten sich Interessensgemeinschaften, um die Inklusion in Deutschland voranzutreiben. So gründete sich 2006 auch der mittendrin e.V. 2006 von Eltern in Köln, die ein Kind mit Behinderung haben. Die Idee entstand auch aus vielen empörten Gesprächen, wie Kinder mit Behinderung in Deutschland in Förderschulen aussortiert werden. Seitdem haben sie viele Beratungsangebote in Köln geschaffen und bereits zwei Fachkongresse abgehalten.
Dieses Jahr stand der Fachkongress unter dem Motto „Eine Schule für alle. Das schaffen wir“. Hier verschiedene Einblicke zu Inklusion im Bildungsbereich.
Mit Schriftdolmetscher durchs Studium mit Hörbehinderung
Heike Albrecht von der Firma VerbaVoice erklärte die Arbeitsweise mit Schriftdolmetschern von VerbaVoice. Die Schriftdolmetscher von VerbaVoice nutzte die junge Frau selbst für ihr Studium der Gehörgeschädigtenpädagogik und Psychologie an der LMU München. „Ich hatte die Wahl zwischen Gebärdensprachdolmetschern und Schriftdolmetschern. Ich habe mich dann für Schriftdolmetscher entschieden, weil mein Studium in Psychologie sehr aufwendig ist und sehr viel Unterrichtsstoff hat. Und wenn ich dann permanent auf den Gebärdensprachdolmetscher schauen muss, ist das anstrengend“, erklärte Frau Albrecht.
VerbaVoice unterstützt vor allem im Bildungs- und Berufsbereich oder in Parlamenten wie dem bayrischen Landtag und der Bundestagswahl. Der hörende Referent spricht in ein Mikrofon, irgendwo in Deutschland oder weltweit sitzen zwei Dolmetscher. Der Ton wird auf ihren Laptop übertragen. Der Dolmetscher schreibt dann alles ganz schnell oder gebärdet den Text auf eine Leinwand. Dann wird alles auf das Tablet, den Laptop oder Smartphone über das Internet übertragen.
Wie sieht inklusiver Unterricht aus?
Dieser Frage ging Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik zusammen mit ihren internationalen Kollegen im Comeniusprojekt „TdiverS“ in sechs verschiedenen europäischen Ländern nach. Frau Merz-Atalik stellte während ihrer Arbeit als Professorin für Sonderpädagogik/Inklusion fest, dass ihre Studierenden keine Vorstellung haben, wie inklusiver Unterricht aussieht. In ihrer Schulzeit haben die Studierenden den Umgang mit Vielfalt nicht kennenlernen können. „Deswegen veranstalte ich seit zehn Jahren zwei Mal im Jahr internationale Exkursionen mit meinen Studierenden. Ich dachte aber, ich brauche auch noch Material für die anderen Veranstaltungen und bin auf die Idee gekommen, ein EU-Projekt unter Comenius zu beantragen“, erklärte Frau Merz-Atalik.
Die Basis für Inklusion bildet, dass alle Kinder in eine Schule aufgenommen werden. Bei der Untersuchung standen inklusive Unterrichtsmethoden und Grundprinzipien bei der Haltung und den Werten der Schulen im Mittelpunkt. Inklusion ist ein Prozess der Auseinandersetzung mit Vielfalt.
Teilgenommen haben Schweden, Island, Litauen, Luxemburg, Spanien und Deutschland. Der Entwicklungsstand der inklusiven Beschulung war in den Teilnehmerländern verschieden. Alle anderen Länder des Projekts waren in der Umsetzung von inklusiver Bildung weiter als Deutschland. Schon 1994 gab es die sogenannte „Salamanca-Erklärung“ der UNESCO, die den Begriff Inklusion definierte und zu inklusivem Unterricht aufforderte. Dieses und viele weitere Papiere wurden in Deutschland nicht realisiert. Im Jahr 2015 erhielt Deutschland eine kritische Rückmeldung zur Umsetzung der UN-BRK.
Zur Abschlussveranstaltung im November 2016 wurde ein USB-Stick mit zahlreichem Videomaterial, Texten und Interviews zu inklusiver Bildung fertig gestellt. Darunter ist beispielsweise Videomaterial von einer Schule in Madrid, die bilingual in spanischer Gebärdensprache und Lautsprache unterrichtet. Am Nachmittag der Abschlussveranstaltung haben alle Schulen ihre Ergebnisse vorgestellt und Kontakte geknüpft, um sich gegenseitig zu besuchen.
Auf dem Weg zur inklusiven Bildung – Wo steht Deutschland?
Eine Podiumsdiskussion betrachtete die verschiedenen Blickwinkel zu Inklusion. Dr. Valentin Aichele ist der Vorsitzende des Deutschen Instituts für Menschenrechte und begleitet die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland. „Das Recht auf Bildung als Menschenrecht ist von der internationalen Staatengemeinschaft von 1966 anerkannt worden und spielte auch international eine große Rolle“, erklärte Aichele. Durch die UN-BRK wurde das Menschenrecht auf Bildung zu inklusiver Bildung präzisiert. Nach zehn Jahren gibt es bereits Fortschritte in Deutschland, da mehr Kinder mit Behinderung an Regelschulen unterrichtet werden. Dennoch ist der aktuelle Entwicklungsstand enttäuschend.
Auch Professor Dr. Michael Wrase betont die internationale Bindung der Bundesrepublik an die UN-BRK. Inklusive Bildung muss in der Umgebung angeboten werden. Für den Unterricht müssen verschiedene Vorkehrungen wie passendes Lehrmaterial, Barrierefreiheit und auch Assistenz bereitgestellt werden. Übergangsweise sollen laut Bundespolitik Eltern entscheiden, ob ihr Kind mit Behinderung eine Regelschule oder Förderschule besucht. Dennoch sind die Hürden für Kinder mit Behinderung an einer Regelschule unterrichtet zu werden sehr hoch. Das entspricht nicht inklusiver Bildung.
Lisa Reimann, Pädagogin und die Verfasserin der Website „Inklusionsfakten“, dagegen wurde in ihrer Schulzeit bereits in einer Integrationsklasse zusammen mit Kindern mit und ohne Behinderung unterrichtet. Für sie ist ganz klar, dass der Vertragspartner, die Bundesrepublik Deutschland, nicht genügend den Ausbau eines inklusiven Schulsystems unterstützt. Die ersten integrativen Schulversuche starteten bereits in den 1970er Jahren, Studien belegen den Wert inklusiver Bildung.
Für viele Länder ist inklusive Bildung längst normal wie in Italien. Andrè Ponzi, ehemaliger Landesschülersprecher Hessens, kann dies nur bestätigen. Er ging sechs Jahre lang in Italien zur Schule. Kurz vor der Podiumsdiskussion traf er eine italienische Freundin, die nicht verstand, warum man in Deutschland noch heute über inklusive Bildung diskutiert. Seit 40 Jahren gibt es in Italien keine Förderschulen mehr, die Inklusionsrate liegt bei 99 Prozent. In deutschen Schulhöfen dagegen ist das Wort behindert ein Schimpfwort, das kennt man in Italien nicht. In Deutschland wird sehr viel diskutiert, aber es mangelt an politischem Willen zur Umsetzung.
Einen Einblick welche Rolle inklusive Bildung für Ministerien spielt, gab Dr. Tobias Funk, Mitglied des Sekretariats der Kultusministerkonferenz. Für ihn ist inklusive Bildung lediglich ein aktuelles Thema unter vielen anderen wie beispielsweise Digitalisierung. Die Kultusministerkonferenz hat sich vorgenommen, den Text zur Menschenrechtserziehung zu überarbeiten ebenso wie weitere Angebote der Lehrerbildung. Er sieht Inklusion als Prozess und betonte die Besonderheiten der deutschen Geschichte in der Herausbildung der Förderschulsystems.
Bundesbildungsministerin Wanka war ebenfalls zur Podiumsdiskussion eingeladen. Leider fand sie keine Zeit, ebenso nicht wie Vertreter des Bundesbildungsministeriums.
Pablo Pineda oder: So sieht gelebte Inklusion aus
Wie inklusive Bildung bereits in vielen anderen europäischen Ländern gelebt wird, zeigt die Lebensgeschichte des Schirmherrn des Fachkongresses eindrücklich. Pablo Pineda ist der erste Mensch mit Down Syndrom, der ein Hochschulstudium in Lehramt und Psychologie absolviert hat. Mit vier Jahren konnte er bereits lesen. In Spanien besuchte Pineda eine Regelschule. 85 Prozent aller Kinder mit Behinderung werden in Spanien auf Regelschulen unterrichtet. Per Video-Live-Schaltung hielt er ein Plädoyer für inklusive Bildung.
Ich denke, dass Bildung ganzheitlich sein muss. Es geht nicht nur um theoretischen Fachunterricht, hier zählen auch der emotionale Aspekt, das Selbstbewusstsein/Zuversicht, die Werte. Das ist alles sehr wichtig für die Erziehung. Das lernt man nur, wenn man mit Kindern mit anderen Begabungen interagiert. Ihr werdet Euren Kindern keinen Gefallen tun, wenn ihr denkt, die ausgesonderte Erziehung sei besser als die inklusive. (Pablo Pineda)
[…] andere Länder bereits viel weiter sind. Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik leitete das Comenius-Projekt „Tdivers“. In sechs verschiedenen europäischen Ländern wurden Schulen besucht, um für Lehramtsstudierende […]