In einer Welt für Normalwüchsige stoßen kleinwüchsige Menschen jeden Tag auf neue Herausforderungen. So geht es auch der Würzburgerin Marlis. Unsere Autorin hat die kleinwüchsige Studentin einen Tag lang begleitet.
Im Flur kommt einem schwül-warme Luft entgegen. Nur wenig Licht scheint durch die winzigen Fenster hinein. Mit angestrengtem Blick nach oben drückt Marlis auf den Aufzugsknopf im Erdgeschoss des Studentenwohnheims „Am Hubland“ in Würzburg. Bis in den zweiten Stock sind es für die 21-Jährige zu viele Stufen. „Ein paar bekomme ich zur Not hin“, sagt sie. Im Fahrstuhl streckt sie sich auf Zehenspitzen nach der Taste für den zweiten Stock. Sie kommt gerade noch so dran. An die Taste für den dritten und vierten Stock nicht. Daher kamen bei der Wohnungssuche nur Erdgeschoss, erster und zweiter Stock in Frage. „Auf lauter so Blödsinn muss man achten“, sagt sie mit genervten Unterton.
Rumms. Im zweiten Stock angekommen, zieht sie an einer Schlaufe den Türgriff nach unten. Die Schlaufen hängen an jeder Durchgangstür zu ihrer Wohnung. So kann sie die wuchtigen Altbau-Türen öffnen. Sie läuft in kleinen Schritten Meter für Meter den schmalen Flur zu ihrer Wohnung entlang. An die langen Gänge im Wohnheim musste sich Marlis bei ihrem Einzug letztes Jahr erst gewöhnen. „Am Anfang war es hier wie in einem Flughafen, endlose Gänge“, lacht Marlis.
Marlis Weinold ist 1,04 Meter groß. Sie ist eine von circa 100.000 Kleinwüchsigen in Deutschland. Kleinwüchsige Menschen sind unter 1,50 Meter groß. Marlis hat eine spezielle Form des Kleinwuchses: Diastrophische Dysplasie, kurz DTD. Mutter und Vater geben das defekte Gen weiter. Während der Schwangerschaft bilden sich Knochen und Gelenke nicht vollständig aus. Bei der Geburt sind Arme und Beine kürzer als bei normal entwickelten Neugeborenen. Das Wachstum ist verzögert und bleibt in der Pubertät, wie bei Marlis, bei knapp über einem Meter stehen. In ihrer Familie ist sie die einzige, die kleinwüchsig ist.
Für ein Gespräch auf Augenhöhe muss sie immer nach oben schauen. „Ich habe es voll gerne, wenn andere in die Hocke gehen“, erzählt sie mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Ich erkenne die Leute meistens an den Schuhen“, schmunzelt sie. High Heels und Schuhe mit Absatz finden sich vergeblich in Marlis Schuhregal. Sie trägt schwarze orthopädische Schuhe. Diese sind stabiler und ihre Füße haben im Schuh mehr Halt. Auf ein paar Schuhe mit Sonderanfertigung wartet Marlis meist bis zu zwei Monate. Ein Paar kostet 2.000 Euro. Das bezahlt die Krankenkasse. Von Geburt an geht sie zur Physiotherapie, um Muskeln und Gelenke zu stärken.
In ihrem Studentenzimmer nimmt ihr Hochbett den meisten Platz ein. Am grauen Schrank unterm Hochbett kleben Fotos aus Kindertagen. Auf einem Foto trägt Marlis ein Kommunionskleid. Ihr Onkel kniet zu ihr herunter, um mit ihr auf gleicher Augenhöhe zu sein. Auf dem Foto daneben nimmt sie ihren kleinen Bruder Huckepack. Er ist ein Kopf größer als sie. Links unten steht auf einer Postkarte: „Hab nochmal nachgemessen. Du bist großartig.“
Auf den Stufen der Treppe zum Hochbett stehen zusätzlich weiß lackierte Holz-Hocker, selbstgebaut von Marlis mit ihrer Schwester und ihrem Vater. Sie setzt einen Fuß auf den etwas wackligen Hocker, dann einen Schritt auf die Stufe. Hocker, Stufe, Hocker, Stufe. Jeden Morgen. Dann ist Marlis unten angekommen. Ohne Hocker geht fast nichts. Sie sind in der ganzen Wohnung verteilt. Im Badezimmer vorm Waschbecken. Vor der Toilette. In der Küche vor der Arbeitszeile.
Um die Jalousie am Morgen hochzuziehen, klettert sie auf die Bank am Esstisch und zieht die Schnur mit ihren kurzen Fingern nach oben. Gestern hat Marlis ihre letzte Physik-Prüfung geschrieben, das Semester ist geschafft. Sie möchte Lehrerin für Mathe und Physik werden. Während andere Kommilitonen bis in die Nacht feiern, geht sie eher selten in die Disco. Der Grund: „Ich habe keinen Bock, Ärsche zu sehen.“ Gefeiert wurde trotzdem, auch ohne Disco. Der Wecker hat sie heute Morgen um sieben Uhr aus dem Bett geklingelt. „Ich habe nur vier Stunden geschlafen.“ Auf ihrem Gesicht bilden sich Lachfältchen. Von Augenringen keine Spur.
Ausschlafen ging heute nicht. Wenn Marlis Haare waschen will, so wie an diesem Morgen, fährt sie oft zu ihrer Freundin Nina Stephan. Wegen ihrer kurzen Arme reichen die Hände nicht bis zum Hinterkopf. Nina musste heute früh auf den Zug nach Nürnberg, also stand Haare waschen vor Ninas Abfahrt auf dem Programm. Nina und Marlis treffen sich jeden Tag. „Mein Mädchen für alles“, grinst Marlis. Sie hilft ihr im Alltag bei allem, was so ansteht: einkaufen, Fenster putzen, Bett beziehen, Wäschekorb tragen oder Jeans anziehen. Jogginghosen kann sie selbst anziehen, bei Jeans wird es schon schwieriger. „Die bauchfreien Crop-Tops sind gerade super“, schwärmt sie. Diese muss sie nicht zur Schneiderin bringen. Hosen und Jacken allerdings schon.
Mit ihrem Laufrad fährt Marlis zum Universitätsgelände. Am Himmel sind nur ein paar einzelne Schleierwolken. Weite Strecken zu Fuß sind zu mühsam. Seit Ende der Grundschule ist der Kinderroller ihr ständiger Begleiter. Mit ihrem Opa hat sie früher im Garten geübt. Für die Grundschule hatte Marlis einen Rollstuhl. Das war die Bedingung, dass sie auf eine normale Schule gehen konnte. Der Schulleiter hatte „Angst, dass ich in der Pause umgerannt werde“, sagt sie genervt. Ausgelacht oder gehänselt wurde Marlis nie. „Natürlich gab es mal Verwunderung, aber ich hatte immer Glück mit meinen Mitschülern“, sagt sie stolz. Ihre braun-grünen Augen leuchten. Blöd seien manchmal Kindergruppen, die sie anstarren und rufen: „Guck mal, guck mal!“
Die Lenkradstange bei ihrem Laufrad ist auf maximaler Höhe eingestellt, da ihre Arme zu kurz sind. Ihre kurzen Finger umgreifen fest die Stange. Mit dem Laufrad überquert sie die Straßenseite zur Uni. Marlis dunkelbraunen Haare mit leicht rötlichem Schimmer wehen im Wind. Ein kleiner Berg führt zum Campus. Mit einem Bein nimmt sie Schwung. Der Plastik-Hocker klappert an der Lenkradstange. Mit Laufrad und Hocker fährt sie den Fußweg hinauf. Ihren Hocker hat sie zur Vorlesung immer dabei. Den klemmt sie sich vorne an die Stange. Sie braucht ihn im Vorlesungssaal, damit die Füße nicht einschlafen und baumeln. Nur wenige Studenten haben sich heute nach Semester-Ende auf den Uni-Campus verirrt.
Die Sonne knallt. Die Bäume rascheln im Wind. In der Bibliothek ist sie kaum. Hohe Bücher-Regale sind für die 21-Jährige unerreichbar. Fünf Gehminuten vom Uni-Campus entfernt liegt der Supermarkt „tegut“. Mit ihrem Laufrad überholt sie einen schlaksigen Mann auf dem Bürgersteig. Er schaut etwas verdutzt hinterher. Komische Blicke nimmt Marlis nicht mehr wahr. Dass sie anders ist als andere Menschen, darüber hat sie sich „nie so richtig Gedanken gemacht.“ Sie müsse sich immer behaupten und alles erkämpfen, weil viele Menschen ihr wenig zutrauen. Im Supermarkt angekommen, holt sie sich einen Einkaufswagen für Kinder. Im Eingangsbereich ist die Obst- und Gemüse-Abteilung. Es riecht nach Banane. Marlis greift in der untersten Etage nach Kiwis, Äpfeln und Tomaten. Der Salat zwei Etagen darüber erreicht sie nicht mehr.
Ein Gang weiter schaut Marlis nach oben. Konservendosen, Chipstüten und Orangensaft-Packungen stehen ganz oben im Regal. „Bei den normalen Regalen komm ich halt maximal bis zur dritten Reihe“, sagt sie. Mit dem Einkaufswagen bleibt sie vor den Tiefkühltruhen stehen. Auf ihrer Augenhöhe liegt eine bunte Verpackung auf der anderen. Hineingreifen geht nicht. Der Schieber zum Aufziehen ist viel zu hoch. Im hinteren Gang schiebt eine ältere, kurzhaarige Frau an der Fischtheke ihren Einkaufswagen entlang. Für einen kurzen Moment bleibt sie bei der Vitrine stehen und mustert Marlis. Dann sagt sie kaum hörbar „Hallo!“ Marlis ist hingegen nicht verunsichert. „Solche Situationen passieren öfter. Als müssten die Leute mich extra grüßen, um ihre Offenheit mir gegenüber zu zeigen“, sagt sie. Dabei bin ich ein Mensch „wie jeder andere auch.“ Bei der Partnersuche sei das eher schwieriger. „Ich kenne welche, bei denen funktioniert das ganz gut.“ Wenn nicht beide kleinwüchsig sind, müsse man erstmal die Blockade im Kopf lösen.
Nach dem Einkauf fährt sie zurück Richtung Wohnheim. An der Straßenseite bleibt sie bei ihrem weißen BMW stehen, schließt auf, und hievt ihr Laufrad auf die Rückbank. „Der Kofferraum ist grundsätzlich leer, da ich an diesen gar nicht hinkomme“, sagt die 21-Jährige. Marlis stützt sich beim Einsteigen am Türrahmen des Autos ab. Zum Tanken geht es einmal quer durch die Innenstadt. Marlis setzt ihre schwarze Sonnenbrille auf. Die Klima-Anlage bläst angenehm kühle Luft ins Gesicht. Marlis schwärmt: „Ich liebe Autofahren!“ Das Auto ist eine Sonderanfertigung. Es wurde mit einer Pedalverlängerung für 3.000 Euro umgebaut. Einen Anspruch hat sie als Studentin bei der Krankenkasse darauf nicht. Ein dickes Polster stützt ihren Rücken auf dem Fahrersitz. Sie kann gerade noch über das Lenkrad drüber schauen.
Der Verkehr staut sich wegen den vielen Baustellen. Auf Radio Gong läuft James Blunt. Eine rote Ampel reiht sich nach der anderen. Ein Autofahrer hupt. Am Residenzplatz vorbei geht es zu ihrer Lieblingstankstelle. Spontan tanken gehen geht normal nicht. An dieser Tankstelle schon. Der Bordstein vor den Zapfsäulen ist leicht erhöht. So kann Marlis leicht den Tankschlauch aus der Zapfsäule ziehen. „Das ist immer so ein Glücksmoment, wenn etwas einfach so funktioniert.“ Sie strahlt.
georg fuhs
hallo frau leiber
ich finde den artikel prima und richtig. wer – wie auch immer – nicht normal ist, wird ausgegrenzt.
als randgruppe gibt es kaum “passende” produkte.
aber auch im alltag. auch mit kindern spreche ich “auf augenhöhe”.
anders wäre mir unangenehm und nicht angemessen.
augenhöhe ist auch eine frage der wertschätzung.
ich bakam die aufgabe, als designer für eine schreinerei möbel für kleinwüchsige zu konzipieren.
deshalb möchte ich gerne mit ihnen reden, denn ich bin nicht kleinwüchsig, muss mich also in ihre und IHre lage versetzen.
wir sind an einem feedback interssiert und würden ihnen deshalb gerne skizzen unserer ideen zukommen lassen.
mit freundlichen grüßen
georg fuhs
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