Durchgeplant und immer am Arbeiten – Das denken viele Marokkaner über die Deutschen. Gar nicht so abwegig, wenn man mal die marokkanische Entspanntheit erlebt. Nach zwei Wochen des gemütlichen Pfefferminztee-Schlürfens bin ich irgendwann ins Grübeln gekommen: Sind wir Deutschen zu unentspannt?
„For Germans work is so important“
Auf den Straßen riecht es nach Curry und anderen Gewürzen, die ich nicht einmal kenne. Roller knattern, Verkäufer rufen durcheinander: „Come, have a look in my shop.“ Immer wieder ertönt „Attention, attention“, wenn sich ein vollbeladener Esel einen Weg durch die Menge bahnt.
Noch zwei Mal abbiegen.
„No, I don’t need sunglasses“.
Noch ein Mal abbiegen.
„Yes, we know the way.“
Dann: endlich Ruhe. Wir haben unser Hostel gefunden und mit dem Schließen der Tür rückt das verrückte Leben in der Medina von Marrakesch in weite Ferne. Meine Freundin und ich haben uns im Gemeinschaftsraum auf die bunten Kissen fallen lassen. Ein junger Marokkaner sitzt neben uns. Er heißt so, wie die meisten jungen Marokkaner hier: Mohammed. Vor uns auf dem Tisch: eine heiße Kanne mit Pfefferminztee, der so süß ist, dass es bei jedem Schluck in meinem Kopf laut „Diabetes“ schreit. Mohammed nippt an seinem Tee, aus dem Glas dampft es noch. „I would be a bad German“, sagt er. Er nimmt seine Cap von seinem Schoß und setzt sie sich auf. Seit ein paar Wochen wohnt er in dem Hostel. Eine eigene Wohnung hat Mohammed gerade nicht. Er lebt einfach von Hostel zu Hostel und schaut, wo es ihn hin als nächstes hintreibt. Über seiner Schulter hängt eine Gitarre. Immer wieder spielt er wahllos ein paar Akkorde darauf. Dann erklärt er: Beim Arbeiten würde er manchmal zwischendurch mit seinen Freunden telefonieren. „And you know…“, er muss lachen, „you just keep on talking and talking and you forget about the time and your work.“ Hier in Marokko seien die Menschen nicht so streng, meint er. „But for Germans work is just so important, isn’t it?“
Sofort muss ich an das schwäbische Sprichwort „Schaffe, schaffe Häusle baua“ denken. Zumindest in Süddeutschland scheinen sich immer noch viele danach zu richten. Erst vor Kurzem hat mir eine ehemalige Schulfreundin erzählt, dass sie sich schon nach Bauplätzen in ihrem Heimatdorf erkundigt. Nicht der Weg ist das Ziel, es zählt nur das Ankommen: studieren, arbeiten und dann das Eigenheim. Umwege? Fehlanzeige. Man könnte sich ja verlaufen und Zeit verlieren. Oder noch viel schlimmer: sehen, dass es woanders vielleicht viel schöner ist. Verallgemeinern kann man das natürlich nicht, deshalb widerstehe ich dem Drang, Mohammed sofort zuzustimmen. Trotzdem: Das Gefühl, dass in dem Klischee eine ganze Menge Wahrheit steckt, bleibt.
„Germans think a lot“
Über alles dreimal nachdenken, lieber auf Nummer sicher gehen – Nur ein paar Tage später werden wir erneut mit diesem Vorurteil konfrontiert. In Taghazout, einem ehemaligen Fischerdorf an der Atlantikküste, lernen wir abends zwei Marokkaner kennen. Die beiden wollen uns gerne noch auf eine Tanjine, das typische Nationalgericht Marokkos, einladen. Wir wissen noch nicht, was wir an dem Abend unternehmen wollen und antworten daher: „We have to think about it.“
Da bricht einer der beiden in schallendes Gelächter aus. Er beugt sich nach vorne und zieht den Gürtel seines blauen Bademantels ein wenig enger. „If you want to buy a big ship …“, er schaut kurz nach oben und überlegt. „… or if you want to buy a camel, then the people in Maroco say ‚I have to think about it‘.“ Aber Deutsche? Die würden scheinbar über alles nachdenken. „They always think a lot“, stimmt sein Kumpel lachend zu.
Eine Tüte voll Orangen, Brot und Lebensweisheiten
Lange Schlangen und gestresste Verkäufer – in Marokko sind das absolute Exoten. Ihnen zu begegnen ist so wahrscheinlich, wie einen Marokkaner zu finden, der keinen Pfefferminztee mag. Zumindest, wenn man sich an die kleinen Minimärkte hält. Unseren liebsten Minimarkt entdecken wir in Merzouga, einem kleinen Wüstenort. Hinter dem Verkaufstresen stapeln sich bis zur Decke große und kleine Kleinigkeiten. Von Toilettenpapier über Sonnencreme bis zur Frühstücksmarmelade. Oft stehen wir lange davor und sehen den Laden vor lauter Artikeln nicht. Auf der anderen Seite, hinter dem Tresen: ein faltiger, braungebrannter Mann namens Ali. Meistens verlassen wir den Laden genau gleich: zwei Orangen in den Händen, eine Flasche Wasser unter dem Arm und eine neue Weisheit à la Ali im Kopf.
Als wir wieder einmal unsere tägliche Dosis Orangen einkaufen, fragt Ali, ob wir denn wissen würden, was „Salam“ bedeutet. Wir nicken, das heißt „Frieden“ auf Arabisch. Ali nickt ebenfalls, lächelt und wirkt ganz im Sinne des Wortes sehr zufrieden. Dann schreibt er das Wort auf einen Zettel, streicht das erste A raus und setzt ein I davor. „Islam?“, fragen wir nach. Er nickt nochmals und malt einen Pfeil mit zwei Spitzen von Islam zu Salam. „Connecté“, sagt er. Jetzt liegt es an uns zu nicken und Ali scheint noch zufriedener. Wir verabschieden uns und drehen uns um. Erst da bemerken wir, dass schon ein paar Leute hinter uns warten. Böse Blicke gibt es aber keine.
Wenn Warten zur Normalität wird
Es ist als hätten die Menschen hier mehr Zeit. Wobei das natürlich absurd ist. Sie nehmen sich die Zeit wohl einfach. Schon nach wenigen Tagen sind wir uns einig: eigentlich ganz schön entspannt, diese Entspanntheit! Auch wenn das manchmal lange Wartezeiten bedeutet.
In Merzouga warten wir einmal über eine Stunde auf eine Käsesandwich. Dabei sind wir in dem Café die einzigen Gäste. Wir sitzen draußen in der Sonne und beobachten, wie der Besitzer immer wieder in eines der umliegenden Geschäfte schlendert. Das eine Mal kommt er mit einer Packung Milch zurück, das andere Mal mit zwei Broten unterm Arm. Nach eineinhalb Stunden stellt er dann das Sandwich auf unseren Tisch – kommentarlos. Scheinbar ist das Warten hier Normalität.
Zurück in Deutschland. Wie nach jeder Reise ist einer meiner ersten Schritte, der zum Supermarkt. An der Kasse ist einiges los. Trotzdem beginnt die Verkäuferin ein kurzes Gespräch: Ob ich auch in dem Wohnheim ums Eck wohne? Sie hätte es an meinem Schlüssel erkannt. Ich muss grinsen. Anstatt hektisch meine Einkäufe weiter in die Tüte zu pfeffern, unterhalte ich mich kurz ein wenig mit ihr. Ob die Leute in der Schlange hinter mir schon böse geschaut haben? Ich weiß es nicht, ich habe nicht hingesehen. Und sowieso: Ab und zu schadet es bestimmt niemanden von uns, mal ganz entspannt zu warten.
Tonio
Sehr schöner Artikel. Kann wirklich alles davon nachvollziehen da ich im Moment auch in Marokko unterwegs bin. In den Bergen habe ich gemerkt das diese Entspanntheit wohl oft davon kommt das die Frauen den großteil der Arbeit übernehmen. Probably i am thinking a lot.