Man sieht den Mann erst spät im Fahnenmeer. Als er auftaucht, branden Jubel auf und Applaus. Während des Gangs zum Mikrofon bleibt er kurz stehen, blickt mit Wohlgefallen auf die Menge und ruft etwas, geht weiter, klatscht und ballt die Faust. Dann zeigt er mit dem Finger auf irgendetwas, worauf genau, kann die Kamera nicht sehen. Er tritt ans Rednerpult. In seiner Rede sagt er schließlich folgenden Satz:
„Manchmal sind das meiner Meinung nach keine Menschen. Aber das darf ich nicht sagen, weil die Linksradikalen das furchtbar finden. Das sind Tiere, okay, und wir müssen das stoppen.“[1]
Das sagte Donald Trump, als er schon nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war, sehr wohl aber wieder werden wollte. Mit den „Tieren“ meinte er Migranten.
Nun ist die Gleichsetzung von Menschen mit Tieren keine Erfindung von ihm. Die Absicht ist klar: Der Vergleich soll angebliche Minderwertigkeit, Dummheit oder gesellschaftliche Inferiorität suggerieren. Franz Josef Strauß und sein Generalsekretär Edmund Stoiber prägten die unvergessene Phrase der „Ratten und Schmeißfliegen“ als Synonym für unliebsame Schriftsteller.[2]
Was ist „sagbar“? Rückblick ins Kaiserreich
Sogar zeitgenössische Satire meint nicht ohne Tiermetaphern auskommen zu können, man denke nur an Banksys Gemälde vom britischen Unterhaus, das er mit einer Ansammlung von Affen ausstattete. Satire darf das. Aber der qualitative Unterschied liegt eben in Intention und Ausgestaltung: Wenn ein Publikum in ständiger Wiederholung mit einem Trommelfeuer umgewerteter Begriffe überzogen wird, die allein der Diffamierung und Abwertung anderer dienen, dann verschieben sich die Grenzen des Sagbaren oder sie haben sich bereits verschoben. Und Demokratien in ihrer genuinen Toleranz und Liberalität müssen das grundsätzlich dulden. Ob sie es aushalten oder nicht, dazu bieten Geschichte und Gegenwart anschauliches Lehrmaterial.
Die Verfassung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland, die „Weimarer Reichsverfassung“ vom 11. August 1919, schenkte den Bürgern ein Maß an Freiheit und Selbstbestimmung, das es hierzulande nie zuvor gab. Was nicht bedeutet, dass im Kaiserreich nur Staatsfreundliches verbreitet wurde, die politischen Kabaretts („Überbrettl“, „Elf Scharfrichter“) und die legendäre Satire-Zeitschrift „Simplicissimus“ zeugen davon. Aber man wandelte auf einem schmalen Grat: politisch, religiös wie auch moralisch. Majestätsbeleidigung, Blasphemie oder Verstöße gegen die „Sittlichkeit“ wurden streng geahndet. Was erfinderisch machte:
Das Wort als verbliebene Waffe
Es mussten fein austarierte, zartbittere Formulierungen gefunden, sprachlich auf Messers Schneide balanciert werden, um im Bedarfsfall mit Unschuldsmiene auf die weniger anstößige Interpretationsvariante verweisen zu können. Der Zwang zur Doppelbödigkeit, die vor allem um die Jahrhundertwende in Kunst und Literatur ungemein fruchtbare Werke hervorbrachte, entfiel ab 1919 weitgehend.
Das hatte Konsequenzen auch im politischen Betrieb, wobei die „Tagespresse den Meinungskampf deutlich intensiver austrug als das Parlament selber.“[3] Eigentlich setzte die Weimarer Reichsverfassung in Art. 109 ff. die Leitplanken, die auch „sensible Grenzen des Zulässigen“[4] definierten. Und dann gab es ja auch noch das Strafgesetzbuch. Doch daraus ein Gespür für den sprachlichen Alltag zu entwickeln, war ein erheblicher Teil der Gesellschaft unter dem Eindruck des verlorenen Krieges und des als Diktat empfundenen Friedensschlusses nicht willens. Stattdessen ging man in Stellung, mit dem Wort als verbliebener Waffe, vor allem, um sich an der Schuldfrage abzuarbeiten. Heimkehrende Soldaten, vom Taumel der Euphorie 1914 ins Trauma der Niederlage 1918 abgestürzt, lieferten die Kulisse.
Das mentale Setting der Deutschen zum Start der jungen Demokratie war nicht von vornherein negativ. Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ergaben eine stabile Mehrheit für die demokratischen Parteien SPD, Zentrum und DDP, aus denen die „Weimarer Koalition“ entstand. Keine eineinhalb Jahre später aber war die Vertrauensdividende weitgehend zerstört, alle drei Parteien verloren bei der nächsten reichsweiten Wahl, die SPD besonders signifikant. Die Unterzeichnung des Versailler Vertrags, der Kapp-Putsch hatten die öffentliche Meinung gedreht. Inzwischen dominierten die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen das kollektive Bewusstsein, die als verstörend ungerecht wahrgenommen wurden. Der Feind im Krieg sollte demnach auch der Feind im Frieden bleiben.
Das Narrativ: eine erdrückende Phalanx von Siegermächten mit Unterwerfungsphantasien schicke sich an, das tapfere deutsche Volk aus der Geschichte zu radieren. Das war die gleichermaßen larmoyante wie vergiftete Tonalität, und sie schien die Gemütslage der Deutschen zu treffen. Rund 4.000 Tageszeitungen, davon etwa die Hälfte mit parteipolitischer Ausrichtung, standen bereit, dieses Narrativ publizistisch zu transportieren. Und „das (zunächst) völlig unkontrollierte und unzensierte Pressewesen“[5] nahm sich dieser Aufgabe auf oft hochemotionale Weise an. In den Worten Victor Klemperers: „Die Republik gab Wort und Schrift geradezu selbstmörderisch frei […].[6]
Rassische Narrative
Die Grundlagen für die deutsche Hybris, keinesfalls selbst an der Situation nach 1918 schuld zu sein und anstatt dessen die sogenannte „Dolchstoßlegende“ vorzuschieben, hatten indes andere gelegt – auch Schriftsteller. Bereits etliche Jahre zuvor war der Nationalcharakter der deutschen Bevölkerung infiziert von hochproblematischen Stereotypen, etwa im Blick auf rassische Kategorisierungen. Schon 1814 hatte Ernst Moritz Arndt Juden als „entartetes Volk“ bezeichnet.[7] Bei Friedrich Ludwig Jahn fand sich 1833 der Begriff „Blutschande“ infolge „Vermischung zweier volksthumsfremder Völker“.[8]
Der Essay „Versuch über die Ungleichheit von Menschenrassen“ von Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) erfuhr nach seiner Übersetzung und Veröffentlichung in Deutschland im Jahr 1900 eine beachtliche Aufmerksamkeit, wobei Gobineau „weiße“, d.h. herrschende und „dunkle“, d.h. dienende Rassen kontrastierte und Juden der weißen Rasse zurechnete.[9] Mit Differenzierungen diese Art räumten die Antisemiten des 19. Jahrhunderts, allen voran der Komponist und Autor Richard Wagner, schnell auf. Juden galten wahlweise als Chiffre für Kapitalismus, Liberalismus, Sozialismus oder Mangel an Nationalismus, kurz: für alles damals denkbare Übel, je nach Blickwinkel. 1915 konnte man dann im Buch „Rasse und Rassefragen in Deutschland“ von dem österreichischen Schriftsteller Otto Hauser folgendes lesen:
„Unsere Zeit hat die Judenfrage immer mehr zu einer Rassenfrage gemacht … Man kennt nicht nur jeden Juden aus tausenden heraus, man erkennt auch die jüdische Beimischung selbst in homöopathischer Verdünnung. Man sagt, der und jener sei Jude oder judenstämmig und hat ihn damit erledigt.“[10]
Fünf Jahre später stand in der Deutschen Zeitung:
„Ja, ja! Alljuda muss es sich schon gefallen lassen, dass man es beim rechten Namen nennt. Alldeutsch gegen alljüdisch! All-Deutschland gegen All-Juda! So heißt heute die Parole!“[11]
Und das, obwohl fast 100.000 Juden im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatten.
Angriff auf Minderheiten
Von einer Position wie dieser war es nicht mehr weit, unter Umgehung einer – angesichts des verlorenen Krieges ja durchaus naheliegenden – Verteidigungs- oder Rechtfertigungshaltung direkt zum nächsten Angriff zu blasen: auf Minderheiten, denen im untertänigen Deutschland auf gehässigste Weise schon weit vor 1914/18 ein schlechter bis existenzbedrohender Ruf angehängt wurde. Dazu gehörten demokratisch gesinnte Politiker, insbesondere Sozialdemokraten, und eben Juden. Dass sich Philipp Scheidemann (SPD) als erster Regierungschef der Weimarer Republik weigerte, den Versailler Vertrag zu unterzeichnen und nach nur vier Monaten Amtszeit zurücktrat – vermutlich auch unter dem Druck der Öffentlichkeit, die unter Verkennung der militärischen Gegebenheiten Ungehorsam und Widerstand gegenüber den alliierten Mächten einforderte[12] –, half ihm nichts.
Es reichte, dass er Repräsentant einer neuen Ordnung war, die als Gefahr begriffen wurde. Als sich dann an Scheidemanns Stelle dessen Parteifreund, Außenminister Hermann Müller, ins Unvermeidliche fügte, versuchten sozialdemokratische Blätter wie die „Volksstimme“ den Schaden zu begrenzen, indem sie die düstere Stimmung aufgriffen und wehklagten:
„Wir liegen am Boden, zerschmettert, zernarbt, aus 1.000 Wunden unseres Volkskörpers sickert rotes Blut. Einsam, der Freude bar, schreiten wir gesenkten Hauptes den Gang nach Golgatha.“[13]
Wehklagen quer durch die Zeitungslandschaft
Das Urteil über die sogenannten „Novemberverbrecher“, worunter von Seiten der Republikfeinde unbekümmert bald alle Politiker gezählt wurden, die um eine Rückkehr Deutschlands in die Völkerfamilie und den Wiederaufbau eines funktionierenden, diesmal demokratischen Gemeinwesens rangen, war längst gefällt, und es war vernichtend. Dafür sorgte der verantwortungslose Teil der bereits erwähnten Presse: Parteizeitungen, die am rechten wie am linken Rand einen propagandistisch-polemischen Ton pflegten. Und örtliche Tageszeitungen, „oft ein scharfmacherisches sogenanntes Heimatblatt“ des Hugenberg-Konzerns, der „in großem Maße die Presse auf dem flachen Land“[14] beherrschte.
Aber auch vormals dem liberal-konservativen Spektrum zuneigende Zeitungen begannen sich in die Front derer einzureihen, die keine Grenzen des journalistischen (und menschlichen) Anstands mehr kannten. So beschimpfte der „Miesbacher Anzeiger“ den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger als „Schurken“ und „feist gefressenen Lumpen, das Urbild schmutziger Käuflichkeit“.
Und die „Tägliche Rundschau, unabhängige Zeitung für nationale Politik“ und angeblich „Unterhaltungsblatt für die Gebildeten aller Stände“ stellte fest, Erzberger sei „zwar kugelrund, aber nicht kugelfest“.[1] Das konnte durchaus als Aufforderung verstanden werden, den Unterzeichner des Waffenstillstands von Compiègne zu erschießen. Was dann ja auch geschah. Heute gibt es dafür den Fachbegriff „stochastic terrorism“: Anstiftung zum Hass gegen einen oder mehrere Menschen, mit dem Ziel, dass sich in einer undefinierten Menge jemand findet, die gegen die an den Pranger gestellte Person oder Personengruppe eine – rein zufällig anmutende – Gewalttat verübt.
Ein Gastbeitrag von Dr. Birgit Rätsch. Lest in Kürze den 2. Teil dieses spannenden Themas!
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[1] Beide Zitate zit. n. Krämer, Fort mit Erzberger!, S. 84.
[1] Donald Trump, 16. 3. 2024, Dayton, Ohio, zit. n. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 31. 3. 2024, S. 7. Einige Monate zuvor hatte er in Claremont, New Hampshire von „kommunistischen, marxistischen, faschistischen und linksradikalen Verbrecher, die wie Ungeziefer in unserem Land leben“, gesprochen, die man „ausrotten“ müsse. Ebenda.
[2] Der Spiegel 9/1980, „Das deutsche Wort“, 24. 2. 1980, abgerufen im Internet am 27. 6. 2024. Das Entsetzen auch in konservativen Zeitungen war groß: „Jetzt geht diese Pest also wieder durchs Land.“ (Stuttgarter Zeitung. „Früher hinkten bei uns die Vertreter dieser Spezies.“ (Frankfurter Rundschau). „Mistgabelsprache“ (Welt). Zit. n. ebenda.
[3] Bernhard Fulda, Die Politik der „Unpolitischen“. Boulevard- und Massenpresse in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Frank Bösch/Norbert Frei (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 48–72, hier: S. 48.
[4] Sabine Schneider (Hrsg.), Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2010, S. 7.
[5] Thorsten Eitz/Martin Wengeler, Semantische Kämpfe in der Weimarer Republik. Zur vergessenen Geschichte politischer Sprache in Deutschland, in: Jörg Kilian/Thomas Niehr, Politik als sprachlich gebundenes Wissen (Hrsg.), Bremen 2013, S. 33–44, hier: S. 35.
[6] Victor Klemperer, Lingua Tertii Imperii, Stuttgart ²²1975/2007, S. 32.
[7] Vgl. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin ²2007, S. 179.
[8] Zit. n. ebenda, S. 119.
[9] Vgl. ebenda, S. 35.
[10] Otto Hauser, Rasse und Rassefragen in Deutschland, Weimar 1915, S. 100f. Zit. n. ebenda, S. 331.
[11] Zit. n. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 22.
[12] Besonders drastisch die DNVP-nahe „Hamburger Warte“ am 10. 5. 1919: „Es gibt nur eine Antwort, ihr deutschen Friedensdelegierten in Versailles! Werft diesem internationalen Raubgesindel, das sich erfrecht, von Freiheit und Menschlichkeit zu reden, den Friedenswisch vor die Füße […]! Sie sollen sich den Frieden holen, wenn sie ihn haben wollen!“ Zit. n. Lars Schewe, Der uns aufgezwungene Weltvertrag. Die Presse zum Frieden von Versailles, in: Horst D. Schlosser, Das Deutsche Reich ist eine Republik, Frankfurt a. Main 2003, S. 51–61, hier: S. 57.
[13] Volksstimme, 1. 7. 1919, zit. n. ebenda, S. 56.
[14] Andreas Krämer, „Fort mit Erzberger!“ „Knallt ab den Walther Rathenau!“ – zwei politische Morde im Spiegel der Presse, in: ebenda, S. 79–90, hier: S. 82.
Literatur:
Braun, Christian A., Nationalsozialistischer Sprachstil, Heidelberg 2007.
Eitz, Thorsten/Wengeler, Martin, Semantische Kämpfe in der Weimarer Republik. Zur vergessenen Geschichte politischer Sprache in Deutschland, in: Jörg Kilian/Thomas Niehr, Politik als sprachlich gebundenes Wissen (Hrsg.), Bremen 2013, S. 33–44.
Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Berlin/Boston ⁴2012.
Fulda, Bernhard, Die Politik der „Unpolitischen“. Boulevard- und Massenpresse in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Frank Bösch/Norbert Frei (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 48–72.
Gräb, Sebastian, Der Sprachgebrauch paramilitärischer Kampfbünde: Eine Untersuchung zur politisch-ideologischen Kommunikation in der Weimarer Republik, Hamburg 2018.
Klemperer, Victor, Lingua Tertii Imperii, Stuttgart ²²1975/2007.
Krämer, Andreas, „Fort mit Erzberger!“ „Knallt ab den Walther Rathenau!“ – zwei politische Morde im Spiegel der Presse, in: Horst D. Schlosser, Das Deutsche Reich ist eine Republik, Frankfurt a. Main 2003, S. 79–90.
Pörksen, Bernhard, Die Konstruktion von Feindbildern, Wiesbaden ²2005.
Reichardt, Sven, ‚Vor allem sehne ich mich nach Euch, Kameraden.‘ Eine mikrohistorische Analyse der SA, in: Hans-Peter Becht/Carsten Kretschmann/Wolfram Pyta (Hrsg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Heidelberg u.a. 2009, S. 89–112.
Rödder, Andreas, Das Ende der grünen Hegemonie, F.A.Z. vom 8. 1. 2024, S. 6.
Schewe, Lars, Der uns aufgezwungene Weltvertrag. Die Presse zum Frieden von Versailles, in: Horst D. Schlosser, Das Deutsche Reich ist eine Republik, Frankfurt a. Main 2003, S. 51–61.
Schmitz-Berning, Cornelia, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin ²2007.
Schneider, Sabine (Hrsg.), Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2010.
Schottmann, Christian, Politische Schlagwörter in Deutschland zwischen 1929 und 1934, Stuttgart 1997.
Schumann, Dirk, Politische Gewalt in der frühen Weimarer Republik (1919–1923) und ihre Repräsentation in der politischen Tagespresse, in: Ute Daniel/Inge Marszolek/Wolfram Pyta/Thomas Welskopp, Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, S. 279–310.
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