Tagtäglich setzen sich zahllose Menschen, Hilfswerke und internationale Organisationen für die Eindämmung des weltweit verbreiteten Covid-19 Virus ein. Eines der höchsten Gremien der internationalen Zusammenarbeit – nämlich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen –zeigt sich jedoch bisher tatenlos. Das Schweigen des Weltgremiums zur Covid-19 Pandemie ist ein Weckruf an unsere Bereitschaft zum Multilateralismus, der jetzt mehr denn je im Kampf gegen das Virus gebraucht wird.
Anfang April warnte der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres öffentlich davor, dass die Covid-19 Pandemie nicht allein eine Gesundheitskrise, sondern eine weitreichende Gefahr für die internationale Sicherheit und Frieden darstellt. Sie sei die größte globale Herausforderung für die Organisation seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg vor 75 Jahren. Auch daher forderte der Generalsekretär einen sofortigen weltweiten Waffenstillstand, um sich gemeinsam auf die Bekämpfung von Covid-19 konzentrieren zu könne.
Sein Appell richtete sich besonders an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – das höchste Gremium der internationalen Organisation. Er trägt die Hauptverantwortung für die Wahrung der internationalen Sicherheit und des Friedens und ist durch die Charta der Vereinten Nationen mit der Bewältigung von Krisen und Konflikten mandatiert. Zudem ist er im Kontrast zu den fünf weiteren Hauptorganen der Vereinten Nationen, wie die Generalversammlung, das einzige Organ, dessen Resolutionen völkerrechtlich bindend sind.
Seit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie hat sich jedoch genau dieses Gremium noch nicht zu Wort gemeldet. Als der Sicherheitsrat am 9. April 2020 erstmals zur Covid-19 Pandemie tagte, erhoffte man sich, dass sich die Mitglieder auf eine gemeinsame Reaktion einigen und eine Resolution mit Maßnahmen gegen die Pandemie verabschieden würden. Tunesien und Frankreich legten einen Resolutionsentwurf vor, der nach Verhandlungen jedoch abgelehnt wurde. Auch auf eine Resolution zur Durchsetzung des vom Generalsekretär António Guterres geforderten weltweiten Waffenstillstands einigte sich der Sicherheitsrat nicht.
Dabei ist die Covid-19 Pandemie nicht die erste Gesundheitskrise, mit der sich der Sicherheitsrat konfrontiert sieht. Bereits bei der HIV/AIDS Krise im Jahr 2000 und der Verbreitung von Ebola 2014 sah sich der Sicherheitsrat in der Verantwortung zu Handeln und verabschiedete völkerrechtlich bindende Resolutionen mit dem Aufruf zur internationalen Kooperation. Warum gelingt es den Mitgliedern des Sicherheitsrats also jetzt nicht, eine gemeinsame Haltung zur Covid-19 Pandemie zu formulieren?
Blockiert in der Krise
Im Vergleich zu den Gesundheitskrisen durch HIV/AIDS und Ebola hat sich die Zusammensetzung des Rats wie auch die Haltung einzelner permanenter Ratsmitglieder gewandelt. Neben den fünf permanenten Mitgliedern China, Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA, befinden sich die zehn für zwei Jahre gewählten nicht-permanenten Mitglieder Belgien, Deutschland, die Dominikanische Republik, Estland, Indonesien, Niger, Südafrika, St. Vincent und die Grenadinen, Tunesien und Vietnam im Sicherheitsrat.
Die derzeitige Zusammensetzung erschwert es Mitgliedern wie Belgien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, eine Koalition gleichgesinnter Staaten zu formen, die dieselben Inhalte einer Resolution befürworten würden. Es muss mehr verhandelt und stärkere Kompromisslösungen gefunden werden. Zudem nehmen die USA eine ambivalentere Haltung zur zuvor gutgeheißenen und mitgegründeten multilateralen Weltordnung ein und stellen sich zeitweise auf die Seite der Staaten, die ihre nationale Souveränität höher schätzen, als die Vorteile der internationalen Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen.
Die Blockade der Verhandlungen über die Resolution zur Covid-19 Pandemie ist zum einen auf Streitigkeiten zwischen den permanenten Sicherheitsratsmitgliedern USA und China zurückzuführen. Neben der US-amerikanischen Forderung, das Covid-19 Virus gegen den Willen Chinas explizit „Chinese Virus“ zu nennen, beschuldigen sich beide Staaten gegenseitig, das Virus absichtlich in die Welt gesetzt zu haben.
Zum anderen werden die Verhandlungen von der Uneinigkeit über die Rolle der WHO in der Pandemie gelähmt. Die USA will die WHO in einer gemeinsamen Resolution nicht erwähnt sehen, denn Präsident Donald Trump wirft der Organisation ein schlechtes Krisenmanagement der Pandemie und Hörigkeit gegenüber China vor. Eine Resolution, die die zentrale Funktion der WHO in der Bekämpfung der Pandemie nicht anerkennt, kommt hingegen für andere Mitgliedsstaaten nicht in Frage. Die Verankerung eines weltweiten Waffenstillstands in der Resolution wird besonders von Russland und den USA abgelehnt, da man den bewaffneten Kampf gegen Terrorismus jetzt nicht unterbrechen dürfe. In Aussicht stehe höchstens ein humanitärer Waffenstillstand, der es ermöglichen soll, notwenige Hilfsgüter und humanitäre Helfer in der Pandemie in Krisengebieten einzusetzen.
Das Bangen um nationale Souveränität
Neben diesen inhaltlichen Streitpunkten weist die Debatte im Sicherheitsrat jedoch eine weitaus grundlegendere Uneinigkeit auf; darüber, mit welchen Sicherheitsrisiken sich der Rat befassen soll, wessen Sicherheit gewahrt werden soll und wie viele Handlungsbereiche dem Sicherheitsrat zugeschrieben werden sollen. Nicht alle Mitgliedsstaaten sehen den Sicherheitsrat in der Verantwortung, überhaupt in der Covid-19 Pandemie zu reagieren. Denn sein traditionelles Mandat fokussierte sich auf die Befassung mit geopolitischen Krisen, welche die Souveränität von Staaten und deren territoriale Integrität bedrohen. Das Verständnis von „Sicherheit“ weitete sich jedoch von der Sicherheit des Staates auf die Sicherheit des Menschen (human security) und der Menschenrechten. Diese werden nicht allein durch geopolitische Konflikte gefährdet, sondern zunehmend durch Naturkatastrophen, Folgen des menschengemachten Klimawandels und Gesundheitskrisen.
China und Russland sind der Auffassung, dass die Pandemie eine Notlage der öffentlichen Gesundheit darstellt, nicht aber eine geopolitische Angelegenheit oder direkte Gefahr für die internationale Sicherheit und Frieden, mit der sich der Sicherheitsrat befassen müsste. Der Handlungsbereich des Rats würde, der Wertung Russlands, Chinas wie auch den USA zufolge, überschritten und die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten eingeschränkt werden. Andere Sicherheitsratsmitglieder sind sich jedoch einig, dass sich der Sicherheitsrat genauso mit Risiken nicht-geopolitischer Art für die Sicherheit von Menschen und der Wahrung der Menschenrechte befassen muss. Dazu zählt es auch, Gesundheitskrisen, wie die Covid-19 Pandemie als Gefahr für die internationale Sicherheit und Frieden anzuerkennen.
Risiken – konkret und weitreichend
Wie der Generalsekretär verdeutlichte, sind die Risiken durch die Covid-19 Pandemie für die internationale Sicherheit und Frieden konkret. In bereits konflikt- und armutsgeprägten Gesellschaften, die wenig Vertrauen in ihre Regierungsautoritäten haben, kann ein intransparenter oder unverhältnismäßiger Umgang mit der Pandemie zu einem noch höheren Vertrauensverlust der Bevölkerung in Institutionen und Regierungen führen. Währenddessen können Gewaltakteure, wie lokale Milizen, das Vertrauensvakuum, die Unzufriedenheit und Unsicherheit der Bevölkerung während der Pandemie ausnutzen, um Gesellschaften weiter zu spalten, Unruhen auszulösen und neue Unterstützer für sich zu finden. Extremistische und terroristische Gruppierungen könnten so ihren Einfluss und Tätigkeiten ausweiten, während Regierungsautoritäten sich auf die Eindämmung der Pandemie konzentrieren. Gleiches gelte für die erhöhte Gefahr von Bioterrorismus, wie die gezielte Verbreitung von Viren.
Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie können außerdem anstehende Wahlen und Referenden verzögern. Das beeinträchtigt nicht nur demokratische Legitimations- und zivile Partizipationsprozesse, sondern kann politische Spannungen intensivieren. Durch weltweit eingeschränkte Transportketten und limitierte Mobilität erreichen notwendige Hilfsgüter, Hilfspersonal sowie Diplomaten ihr Einsatzgebiete nur noch begrenzt. Friedensprozesse sowie regionale, nationale und internationale Bemühungen zur Konfliktresolution kommen zum Erliegen. Dort, wo Menschen nun am meisten humanitäre Hilfe im Kampf gegen Covid-19 benötigen, kann sie nicht voll geleistet werden. Das World Food Programm der Vereinten Nationen prognostiziert, dass aufgrund fehlender wirtschaftlicher Tätigkeiten und Versorgungsketten bis Ende des Jahres etwa 265 Millionen Menschen unter Hungersnot leiden werden, doppelt so viele wie im vergangenen Jahr.
Besonders besorgniserregende Auswirkungen der Pandemie auf die internationale Sicherheit und Frieden zeichnen sich mit zunehmenden Menschenrechtsverletzungen ab, der steigenden Gewalt an Frauen und Kindern, Hassreden, aber auch der Verschärfung sozialer Ungleichheiten und der Diskriminierung beim Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Risiken der Covid-19 Pandemie reichen somit weit über die direkten Auswirkungen einer Gesundheitskrise auf Gesundheitssysteme und Patienten hinaus und gefährden konkret die internationale Sicherheit und die Wahrung des Friedens.
Mehr als ein Zeichen der Zusammenarbeit
Basierend auf diesem Verständnis der Auswirkungen der Covid-19 Pandemie spielt der Sicherheitsrat eine zentrale Rolle zur Eindämmung potenzieller Konfliktherde. Er darf das „Vakuum“, das sein Schweigen hinterlässt, nicht den Kritikern der internationalen Zusammenarbeit überlassen. Mehr als in den letzten Jahrzehnten wird der Multilateralismus von Staaten hinterfragt und nationale Prioritäten in den Vordergrund gerückt. Allerdings können die negativen Auswirkungen der Pandemie auf politische und gesellschaftliche Stabilität, die globale Wirtschaft, Gesundheitssysteme, die Verteilung humanitärer Hilfsgüter und die Ernährungssicherung in unserer hochvernetzten Welt nicht von einzelnen Staaten bewältigt werden.
Daher ist das Schweigen des Rats, sein zögerliches Handeln, als Warnung vor weiteren Abwendungen vom Multilateralismus zu verstehen. Die Vereinten Nationen haben Zugriff auf Fonds, Agenturen und Sonderorganisationen, auf deren Einsatz, Kapazitäten und Expertise es nun ankommt. Daher würde eine gemeinsam verabschiedete Resolution in der Covid-19 Pandemie mehr als ein symbolisches Zeichen der Bereitschaft zur globalen Kooperation und Solidarität setzen; es wäre ein Bekenntnis auf höchster Ebenen der globalen Politik zum Multilateralismus, das ein verbindliches Handeln nach sich zieht.
Wie bereits bei der HIV/AIDS Krise und dem Ausbruch von Ebola, würde eine Resolution zur Covid-19 Pandemie den Nexus zwischen Gesundheitskrisen und der internationalen Sicherheit anerkennen und auf die vom Generalsekretär verdeutlichten Risiken für Sicherheit und Frieden eingehen. Derzeit arbeiten etwa 95.000 Mitarbeiter der Vereinten Nationen und zugehöriges Personal für die weitere Ausführung von rund 50 Friedensoperationen, humanitären und politische Sondermissionen. Der Sicherheitsrat ist für die Entsendung und Mandatierung dieser Missionen verantwortlich. Sie müssen an die neue Situation der Pandemie angepasst werden, um den Schutz der Mission, des Personals sowie der lokalen Bevölkerung in der Pandemie zu gewährleisten.
Auch daher hängt Covid-19 direkt mit der Tätigkeit des Sicherheitsrats zusammen und zieht praktische Implikationen mit sich. Bereits jetzt übernehmen Friedensmissionen häufig staatliche Dienstleistungen für die Bevölkerung, für die die Regierungsautoritäten in Krisengebieten nicht aufkommen. Das wird im Kontext der Covid-19 Pandemie weiter zunehmen, durch die Unterstützung von Eindämmungsmaßnahmen, Aufklärungskampagnen und der Vorbereitung von Quarantäneunterkünften und notwendigem medizinischem Equipment. Eine Resolution des Sicherheitsrats würde demnach die Fortwährung und Anpassung der Friedensmissionen in der Covid-19 Pandemie gewährleisten und die Gefahr der Pandemie für die internationale Sicherheit und wie Wahrung des Friedens mindern.
Dem Schweigen ein Ende?
Die Covid-19 Pandemie hält dem Sicherheitsrat einen Spiegel vor. Nun in der Zeit, in der viele Menschen auf eine Reaktion des Sicherheitsrats warten und die Aufmerksamkeit auf internationale Akteure gerichtet ist, weist die Covid-19 Pandemie die Herausforderungen des Sicherheitsrat auf, denen er sich immer wieder und seit den letzten Jahren vermehrt stellen muss – nämlich der zentralen Grundfrage seines Handlungsspielraums, seiner Auffassung der internationalen Sicherheit, die Machtverteilung unter den Ratsmitgliedern sowie die Abwendung einiger Staaten von der multilateralen Weltordnung.
Es darf bei den Betrachtungen jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Sicherheitsrat nur so stark und reaktionsfähig ist wie es seine Mitglieder zulassen, wie hoch deren Bereitschaft zur multilateralen Zusammenarbeit ist. Die Eindämmung der Covid-19 Pandemie und deren weitreichenden Auswirkungen kann nur in Zusammenarbeit bewältigt werden. Daher müssen die Staaten, die sich dem Multilateralismus verschreiben, ständig und im Kleinsten daran arbeiten, die Kompromissbereitschaft und Zusammenarbeit auf internationaler Ebene des Sicherheitsrats zu halten.
Die kommenden Wochen werden zeigen, ob sich die Ratsmitglieder dieser Herausforderung stellen können. Im Mai hält Estland die Ratspräsidentschaft inne, gefolgt von Frankreich im Juni und Deutschlands im Juli. Auch wenn jedes vorsitzende Land seine eigenen Schwerpunktthemen auf die Agenda setzt, werden sie um Verhandlungen einer Resolution in der derzeitigen Situation nicht umhinkommen. Denn hält der Sicherheitsrat sein Schweigen in der Gesundheitskrise der Covid-19 Pandemie, die eine Gefahr für die internationale Sicherheit und Frieden bedeutet, dann muss sich der Sicherheitsrat der Frage seiner Glaubwürdigkeit und seiner Raison d’Être stellen, seinem Grund zur Existenz. Das Schweigen des Sicherheitsrats hallt wie ein Schrei in den Ohren, nach notwendiger Bereitschaft zum Multilateralismus.
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