Wer war Täter im System des Nationalsozialismus? Und wo verlief die Grenze? Zählten Menschen, die bei Deportationen wegschauten oder sich an jüdischem Eigentum bereicherten, als Täter? Seit den 1990er-Jahren wandte sich die Forschung mehr und mehr den Tätern im NS-System zu und forschte sowohl im Bereich des Holocausts als auch in den Tiefen der ehemaligen NSDAP-Parteistrukturen im Hinblick auf verschiedene Tätergruppen.
Was unterscheidet den Mitläufer vom Täter?
Wer ist Täter, wer ist Mitläufer und gibt es im Rahmen der Schuld hier überhaupt einen Unterschied? Mit der genauen Definition des Täterbegriffs haben sich schon viele wissenschaftliche Disziplinen beschäftigt – meist unter starker Diskussion und mit weniger einschlägigem Ergebnis. Im Fall des Nationalsozialismus werden meist prominente Personen, wie Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich, Joseph Goebbels oder Adolf Eichmann in den Fokus gerückt. Aber was ist mit den anderen? Ein Name, der nicht besonders prominent ist, fällt vielleicht weniger auf, macht die Person aber nicht weniger schuldig.

200.000-250.000 Menschen – das ist die Zahl, von der die Forschung bezüglich der deutschen und österreichischen Täterschaft zur Zeit des Holocausts ausgeht. Von ihnen in den Besatzungszonen verurteilt wurden, laut Statista (Statistik unter „Fortführenden Hinweisen“ aufgeführt), 6.500 Menschen, 1.200 von ihnen wegen Mord und/oder Totschlag. Einige Gerichtsverfahren zogen sich aber noch bis weit in die heutige Gegenwart. Als letzter großer NS-Prozess zählt der gegen den „Trawniki“ Iwan Demjanjuk im Jahr 2011, doch auch danach gab es immer wieder kleinere Prozesse, wie beispielsweise den Prozess gegen den SS-Wachmann Bruno Dey im Jahr 2020; dieser genoss aber im Vergleich zum Demjanjuk-Prozess medial nicht viel Aufmerksamkeit.
Aus der Perspektive der Opfer wurden Täter oft anhand ihrer Brutalität kategorisiert; meist von „angepasstem“ Wachpersonal bis hin zum brutalen „Schläger“. Eine genaue Definition und Abgrenzung des Täterbegriffs gibt es daher nicht, eine Abstufung hingegen schon. Aufgrund der Prominenz gewisser „Hochrangigen“ wie Himmler, Heydrich oder Eichmann wurden ihnen unterstehende Kommandeure lediglich als „Gehilfen“ bezeichnet und nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Eine genaue Definition von (Mit-)Tätern gibt es daher nicht, dennoch bietet dieses Thema für die Forschung weiterhin Diskussions- und Forschungspotenzial.
Wer führte den Menschen in die Täterschaft? Eigenständige Radikalisierung oder stille Manipulation?
Was macht einen Menschen aus? Wovon hängt seine Entwicklung oder sein Lebensweg ab? Wie manipulierbar ist ein Mensch und ab welchem Punkt lässt er sich erpressen? Ist Erpressung immer notwendig oder meist nur eine seltener „Plan B“? Dies sind alles Fragen, die sich rund um das Thema „Weg in die Täterschaft“ stellen lassen. Die Antworten auf diese Fragen erweisen sich als äußerst divers, da es eben nicht „die richtige Antwort“ gibt und jeder Mensch seine individuelle Geschichte schreibt. Dennoch lassen sich bestimmte Faktoren bestimmen. Diese können anschließend kategorisiert werden und führen meist zu verschiedenen Thesen, die wiederum unterschiedlich gewichtet werden können.
Im Falle der Täterschaft im Nationalsozialismus fällt in der Forschung sehr häufig der Begriff der Sozialisation. Zugehörig hierzu ist nicht nur die Herkunft, sondern auch das gesellschaftliche Umfeld, sowie die Erziehung und die zeitlichen Umstände, in denen die Person geboren und aufgewachsen ist. Das Beispiel des „Trawniki“ Iwan Demjanjuk veranschaulicht dies. Geboren und aufgewachsen in einer bäuerlichen, prekären Lebenslage in der Ukraine und geprägt von durchaus antisemitischen Stereotypen. Seine Entwicklung spricht vielmehr für eine eigenständige Radikalisierung aufgrund seines Umfeldes.
Ein gegenteiliges Beispiel wäre die tagtägliche Manipulation der Nationalsozialisten in den Städten, da hier meist die bildungsstärkere Bevölkerung lebte. Eine ständige Diffamierung von Juden, politischen Gegnern etc. wurde der Werbung für NS-Organisationen und den Vorteilen durch die Wahl und Macht der Nationalsozialisten gegenübergestellt. Große Ereignisse wie die Olympischen Spiele 1936 in Berlin oder die Möglichkeit des Familienurlaubs durch die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ sind hierfür exemplarisch.
In manchen Fällen hat aber auch diese Art der Manipulation nicht gewirkt. In diesem Fall wurde „Plan B“ angewandt: Erpressung, Bedrohung der Familie oder einem selbst beziehungsweise harte Strafen waren an der Tagesordnung. Im Fall der Geschwister Scholl lässt sich ein vermeintlich dem NS angepasstes Geschwisterpaar erkennen, das aber nach seiner Zeit in der „Hitlerjugend“ und dem „Bund deutscher Mädel“ in den Widerstand ging.
Tätergruppen im Nationalsozialismus – wer gehörte dazu?
Obgleich manche Personen aufgrund ihrer Position „prominenter“ waren als andere, gehörten die meisten einer NS-gesteuerten Organisation an. Anzuführen sind hier bekannte Beispiele, wie die NSDAP als Partei, die SS und ihre verschiedenen Organisationen, sowie die Wehrmacht. Doch was ist mit Unternehmen oder Großbanken, welche sich teilweise markant an sogenannten „Arisierungen“ beteiligt haben und mit der Beschäftigung von Zwangsarbeitern in Verbindung gebracht werden?
Als wohl bekanntester Fall eines im Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg involvierten Unternehmens gilt die „Interessensgemeinschaft Farben“, kurz IG Farben, mit damaligen Sitz in Frankfurt am Main. Die damals größte Unternehmensgesellschaft der Chemie- und Pharmaindustrie betrieb ein eigenes Lager bei Auschwitz. Außerdem stellte das Unternehmen das Giftgas Zyklon B her, das bei den Massenvergasungen in den Vernichtungslagern zum Einsatz kam.
Im Bereich der Banken hat sich besonders die Deutsche Bank an mindestens 363 „Arisierungen“ beteiligt. Außerdem ist bekannt, dass die Filiale der Deutschen Bank im polnischen Kattowitz während des Zweiten Weltkrieges am Bau des IG-Farben-Werks „Auschwitz III Monowitz“ mit etwaigen Krediten für Baufirmen beteiligt war.
Es soll hierdurch veranschaulicht werden, dass die Täterforschung eben nicht nur einzelne Personen, sondern auch Gruppen beziehungsweise Gesellschaften, wie Unternehmen in den Fokus rückt und somit der Begriff der Täterschaft immer schwieriger zu definieren wird.
Eichmann, Müller & Co – Die sogenannten „Schreibtischtäter“
Männer, wie Adolf Eichmann oder Heinrich Müller, waren nicht dafür bekannt, dass sie in Konzentrations- oder Vernichtungslagern Befehle erteilten oder bei Erschießungskommandos anwesend waren. Vielmehr waren sie diejenigen, welche auf Grund der nationalsozialistischen Ideologie Befehle schriftlich anordneten. Aus diesem Grund wird im Fall dieser Personen von sogenannten „Schreibtischtätern“ gesprochen.
Obgleich beispielsweise Eichmann niemals ein Opfer vis à vis getötet hat, wurde er im Nachkriegsprozess 1961 in Tel Aviv im Anklagepunkt des Verbrechens gegen das jüdische Volk, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und des Kriegsverbrechens schuldig gesprochen und von der ersten und zweiten Instanz (meist Berufungsinstanz) zum Tode verurteilt. In diesem Zusammenhang verwies die Philosophin Hannah Arendt auf das „Böse in seiner Banalität“, das sie besonders am Beispiel von Eichmann verdeutlichte, der „nur als ein Rädchen im System“ agierte.
Die Charakterisierung eines Täters hängt demnach nicht ausschließlich von der körperlichen Brutalität ab, sondern von der Gewichtung seiner/ihrer Taten. Im kollektiven Gedächtnis findet sich ein Mensch, der körperliche Brutalität zeigt vermutlich eher wieder als ein Mensch, der nur durch Befehlsgewalt und „Unterzeichnung von Papieren“ Brutalität und Verbrechen ausübte. Dennoch sind beide Arten von Brutalität im NS-System vorgekommen. Im Falle Eichmanns war der Prozess eindeutig. Schwieriger wird es im Fall des Chefs der Gestapo Heinrich Müller.
Müller gilt in der Forschung als mysteriöse Figur des Nationalsozialismus und die Meinungen seiner Zeitgenossen unterscheiden sich äußerst markant; Charakterisierungen erstreckten sich vom „eiskalten Organisator und Vollstecker“ bis hin zum „subalternen Kriminalinspektor“. Im Gegensatz zu Eichmann ist Müller im Nachkriegsprozess nicht angeklagt worden, da er seit Mai 1945 verschollen war; sein Tod wurde allerdings nie dokumentiert.
Brandt, Bouhler & Co – Täterschaft der Ärzte und medizinischem Personals
Die Täterschaft der Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern ist besonders im Rahmen der „NS-Rassenhygiene“ und „-euthanasie“ in den Fokus gerückt worden. Aber auch als Personal in Konzentrations- und Vernichtungslagern und in der „NS-Forschung“ spielten Ärzte eine besondere Rolle. Beispielsweise führten sie Versuche mit KZ-Häftlingen durch, dessen Erkenntnisse Lazaretten zugutekommen sollten; der Versuch, erfrorene Soldaten möglichst schnell wieder zu erwärmen, wäre hierfür ein Beispiel.

Die Versuchspersonen, in diesem Fall meistens KZ-Häftlinge, wurden in diesem Versuch durch Frieren im Wasser oder an der Luft auf eine Körpertemperatur von 27 -29 Grad Celsius gebracht und anschließend durch verschiedene Methoden, wie Sauna, Vollbad oder auch menschliche Wärme wieder aufgewärmt. Unter menschlicher Wärme versteht sich: Die Versuchsperson wurde eng an zwei andere Personen (sie hatten normale Körpertemperatur) gelegt und durch sie gewärmt. Himmler sprach in diesem Fall von sogenannter „animalischer“ Wärme.
Die besondere Tatsache, dass Ärzte mit Beendigung ihres Studiums und Beginn ihrer Praxis durch den hippokratischen Eid die Pflicht um das Wohlergehen ihrer Patienten bemüht zu sein, bestätigt haben, wirft dies ein besonderes Licht auf ihre Taten.
Heinrich Himmler und die „SS-Gefolgschaft“

Im Rahmen der Tätergruppen im Nationalsozialismus galt die SS bis in die 1960er-Jahre als DIE Täterschaft schlechthin; somit wurde ihr jegliche Schuld bis zu diesem Zeitpunkt zugeschoben, bis andere Blickwinkel aufgenommen wurden und weitere Gruppen in den Fokus gerieten. Wenn man an die SS denkt, verbindet man sie meistens mit brutal gesinnten Männern, die mit Gewehren durch die Straßen patrouillieren. Doch die SS war um einiges durchdachter und geplanter, als dass sie nur aus Brutalität bestand. Vielmehr vervollständigte sie Perfidität, Brutalität, Durchdachtheit und planmäßige Unberechenbarkeit in sich. Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und somit Chef aller SS-Organisationen, war es besonders wichtig, dass sich die SS eindeutig von der „Sturmabteilung“ kurz „SA“ abhebte.

1934 wurde im Rahmen des „Röhm-Putsches“ die gesamte SA-Führung eliminiert. Ebenfalls der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik, Kurt Schleicher, fiel dem Attentat zum Opfer. Hiernach erlangte die SS ihre Unabhängigkeit und die SA verlor mehr und mehr an Bedeutung. Die eigentlich „freiwillige“ Rekrutierung der SS-Soldaten wurde mit der Zeit immer rigoroser. Voraussetzungen wie die zulässige Mindestgröße von 1,70 Meter wurden gelockert oder bei Tests nach „rassischem Idealbild“ wurden mehrere Augen zugedrückt. Bei welchen Voraussetzungen allerdings nie eine Ausnahme gemacht wurde waren folgende: Gesundheit und politische sowie persönliche Zuverlässigkeit.
Die Aufteilung unter dem Reichsführer SS Heinrich Himmler erfolgte in verschiedenen Bereichen. Die größten Zweige bestanden aus der Ordnungspolizei, dem Reichsicherheitshauptamt, sowie dem SS-Führungshauptamt, welchem die einzelnen SS-Truppenverbände unterstanden. Besonders bei der „Totenkopf-SS“, welche in den Konzentrations- und Vernichtungslagern eingesetzt war, wurde die Brutalität der Täter von den Opfern kategorisiert.
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