„Aber ein ungewolltes Kind! Das kann man doch nicht in die Welt setzen!“ Meine Dozentin betonte den Satz so, als wäre von einem wahren Zombie die Rede. Die junge Co-Dozentin bestätigte sie mit eifrigem Nicken. „Eine Frau zwingen, ein Kind zu kriegen… Eine Entscheidung von vier Männern!“ Auch bei diesen schien es sich um irgendwelche kannibalischen Außerirdischen zu handeln.
Ist ungewollt denn unwert?
Ich wurde traurig und wütend zugleich. War es etwa die Schuld eines Kindes, wenn es ungewollt war? War „ungewollt“ denn mit einem Urteil „lebenslänglich ungeliebt“ gleichzusetzen? Woher wollte denn die Dozentin wissen, dass sie selber ein „gewolltes“ Kind gewesen ist? Wenn meine Kollegen nur wüssten, dass in ihrer Mitte eine saß, die glaubte, dass es sich bei Abtreibung darum handelte, das Leben eines Kindes zu beenden…
Würden sie dann anders sprechen? Würden sie einen „safe space“ für mich schaffen, damit ich ohne emotionalen Schaden aus dem Kurs davonkommen kann, so wie das bei anderen Themen gemacht wird, oder auch bei demselben Thema, nur in die andere Richtung? Sollte mir nämlich einfallen, zu äußern, dass das Ungeborene ein Baby sei, würde ich Frauen verletzen, perfide argumentieren, wäre boshaft und würde Frauen nicht „in ihrer Entscheidung“ unterstützen. – Aber wer will denn Unterstützung dafür verlangen, ein Kinderleben beenden zu dürfen?
Nur hören, wen man hören will.
Mein Herzschlag verlangsamte sich – überraschenderweise. Normalerweise geht er hoch, wenn ich das Gefühl habe, gleich etwas sagen zu müssen, noch dazu was Kontroverses. Was war jetzt anders? Ich hob die Hand.
Und jetzt, ich weiß, sollte eine Pointe kommen. ‚Ich stand auf, erklärte allen in drei Minuten, was Sache war, schulterte meine Tasche und marschierte erhobenen Hauptes aus dem Raum, die Tür herzlich laut hinter mir zuknallend.‘
Aber nein. Das Leben verschenkt nicht oft gute Pointen. Gute Pointen verlangen Mut und dulden meist keine Zögerlichkeit. Und ich hatte in dem Moment zu wenig vom einen und zu viel vom anderen.
Nein, ich blieb sitzen, und begann nur, nachdem mir die Dozentin durch widerwilliges Zunicken das Wort erteilt hatte, zu erklären, dass das Urteil zu Roe lediglich den Bundesstaaten das Recht zurückgab, über die Regelungen zu entscheiden und dass es kein Verfassungsrecht auf Abtreibung gab, nie gegeben hatte. Zu viel mehr kam ich gar nicht. Das Wort wurde mir abgeschnitten: Das sei schon zu viel! Egal, ob die Entscheidung 1973 unrechtmäßig war oder nicht, sie war gut. Beide Augen zukneifen. „Wenn Sie nur wüssten, wie das früher zugegangen ist!“, begann die ältere Dozentin eine Schilderung von den Zeiten, wo Abtreibungen noch illegal gewesen waren. „Jetzt so etwas zu tun, nein… Da hin wollen wir nicht zurück!“
Nicht zurück, sondern nach vorne – aber menschlich!
Nein, da hin wollten wir nicht zurück. Auch ich natürlich nicht. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Frauen mit verbundenen Augen eine Abtreibung bei einem anonymen Arzt erlebten, oder dass Frauen an sich selber eine Abtreibung versuchten. Ich wollte, dass sie keine machten. Sei es, weil sie nicht wollten oder weil sie nicht dürfen… Hauptsache, sie gefährdeten und traumatisierten sich nicht, psychisch wie physisch – und Hauptsache, sie löschten kein kleines Kinderleben aus.
Warum dachte niemand an die Kinder? Wie konnten wir so kalt geworden sein? Warum achtete niemand die Würde der Frau in der Gabe, Kinder bekommen zu können? „Nur weil man Kinder bekommen kann, heißt das ja nicht, dass man es muss!“, kam genau da aus der Ecke hinter mir. Ich war außer Fassung; eine Schwangere hatte ja doch schon ein Kind. Ein lebendiges, leibhaftiges Kind, dem gegenüber sie Verantwortung trug, ob sie es wollte oder nicht.
„Dass ein Haufen Männer Frauen sagt, was sie mit ihrem Körper zu tun und zu lassen haben… Also, nah!“, schnaubte die Dozentin, als sie sich über den Gerichtshof der USA ausließ – in dem übrigens auch Frauen saßen und für das neue Urteil gestimmt hatten. Wenn ich ihnen nur sagen könnte, dass es 1973 ein Haufen Männer gewesen war, der für die Legalisierung von Abtreibung gestimmt hatten – aber der Raum war inzwischen von wirrem Gerede erfüllt, und mein Kopf von lähmender Empörung. Alle tauschten ein paar emotionale, hirnrissige, abgespeckte Bemerkungen aus, wie man sie in jeder Instagram-Kommentarbox und jeder Klatschzeitung liest. Ich hatte in diesem Kurs (übrigens ein Seminar zu ‚Genderlinguistik‘ – fragt mich nicht, aber scheinbar gehört das Thema Abtreibung, wie übrigens auch, dass Geigen und Klaviere sexistisch sind, weil auf Männerhände zugepasst, auch ganz groß hier rein) schon oft genug erlebt, dass Realität eiskalt geleugnet wird, wenn es den eigenen Zwecken, der eigenen Ideologie diente.
“Women support women” – aber nicht in destruktiven Entscheidungen
Da war die Stunde zu Ende. Aufgebracht verließ ich den Raum. Was sollte man da noch tun? Ich griff mir an den Kopf, draußen kamen mir die Tränen. Tränen der Empörung. Und ich betete. Das hier konnte ich nicht mehr bewältigen. Ich konnte die Welt nicht retten. Wer hätt‘s gedacht… Aber man versucht ja doch täglich sein Bestes. Mein Hirn lief auf Hochtouren. Ich zwang mich, mich nicht länger verrückt zu machen wegen all der Dinge, die ich hätte sagen wollen und können und sollen.
Machen wir uns oft genug klar, was hier passiert? Verdrängen wir es zu häufig, schauen weg, weil es uns dann scheinbar nicht betrifft? Sind wir so versessen auf unsere „sexuelle Freiheit“, den “sex without the kids”, wie er von den eugenischen Verhütungs- und Abtreibungpionieren des letzten Jahrhunderts gefeiert wurde, dass wir jeden, wirklich jeden Preis dafür zahlen würden? In Deutschland wurde ja ziemlich gleichzeitig mit der Abschaffung von Roe v. Wade der sogenannte §219a Geschichte, der es Ärzten verbot, auf ihren Websites (für Praxen, die für Gesundheitsversorgung da sind, nicht für die Zerstörung von Leben) Abtreibungen anzubieten. Gewisse Parteien haben den “Sieg gefeiert”, Kinderleben beenden zu dürfen. Und auch ein wenig weiter unten, in Österreich, soll in einigen Bundesländern der Zugang zu Abtreibung erleichtert werden – erleichterter Zugang zur „Loswerdung“ des eigenen Kindes, das nur Mensch zu sein scheint, wenn es erwünscht ist.
Warum tun wir Frauen so was an? Warum stellen wir sie überhaupt vor diese scheußliche ‚Wahl‘? Denn, weiß Gott, manche Lebenssituationen sind einfach beschissen, ungeplante Schwangerschaften können unberechenbar hart und schmerzvoll sein – meine eigene Mutter und vielleicht auch deine fanden sich in so einer Situation. Aber dann auch noch einen oben drauf setzen und Frauen erzählen, sie könnten ihr Kind ruhigen Gewissens wieder loswerden, anstatt wenigstens Zuspruch und ein klein wenig emotionalen Halt zu geben, das ist einfach so extrem unfair. Je schwieriger die Situation, desto größer müsste die Unterstützung sein – und unsere Gesellschaft macht’s genau andersherum.
Nur Mut und ein offenes Herz
Die Welt steht glaub ich an einem Punkt des Umbruchs. Die Regelungen zur Legalisierung von Abtreibung, die in Europa vor ein paar Jahrzehnten still und fast unbemerkt und oft mit ganz knapper Mehrheit in die Gesetzbücher eingedrungen sind, stehen wieder im Brennpunkt. Werden sie brennen? Können die Herzen der Menschen nochmal Feuer fangen, oder sind wir steinhart und kalt geworden?
Ich möchte uns alle dazu ermutigen, ‘Menschenrechtsaktivisten’ zu werden. Neben den unter schrecklichen Bedingungen arbeitenden Kindern in Indien, den hungernden Kindern in Kenia und jungen Mädchen im Sexhandel gehört vor allem auch das ungeborene Baby unserer Nachbarin, unserer Schwester, unserer Schulfreundin zu jenen Geschöpfen, die wir schützen müssen. Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, werden wir immer wieder Gelegenheiten finden, für die da zu sein, die keine Stimme haben. Es ist eigenartig, wie schwer der Kampf für das Richtige sein kann. Und es fühlt sich manchmal an, als wäre so gar kein Ende in Sicht. Aber der Kampf für das Gute ist eben ein Kampf, nicht nur eine einzelne Schlacht. Und jeder von uns hat eine Lebenszeit, diesen guten Kampf zu kämpfen.
Marion Matheis
Natalies Artikel ist ausgezeichnet.
Grossartig, dass es noch mutige und intelligente junge Menschen gibt.
Bitte mache weiter so!
Barbara
Natalie Ehrenbergers Artikel ist sehr aufwühlend. Ich möchte nicht in ihre Situation kommen. Mir reicht es schon, wenn ich diese Meinungen lese und das Gefühl habe, ich muss etwas dagegen unternehmen. Sie braucht Gleichgesinnte zum Austausch, damit sie daran nicht kaputt geht.
Peter Weißgerber
Scharfsinnig und glänzend formuliert
Bernadett Schumacher
Liebe Natalie. Ein sehr guter Artikel, alles gesagt was es dazu zu sagen gibt!
Peter Weißgerber
Scharfsinnig und glänzend geschrieben.
P. Eugen Rissling
Vielen Dank, Natalie, für Deine tiefen Gedanken! Jedes v.a. große Unrecht rächt sich am Menschen, Nur ein Gedanke dazu: Und dann sitzen diese Damen da im Alter allein in ihren Vier-Wänden, verlassen von ihren Partnern, welche sie ja nicht geliebt, sondern nur in angepriesener egoistischer Gesinnung benutzt hatten, …und beobachten voll Neid und Wehmut ihre Nachbarn, bei welchen Kinderstimmen und Kinderlachen zum Alltagsleben gehört…
Peter Weißgerber
Scharfsinnig und glänzend geschrieben
Eva Pustka
Ein sehr guter Artikel! Danke Nathalie!
Helfen wir schwangeren Frauen, die sich trotz widriger Umstände für ihr Kind und gegen eine Abtreibung entscheiden, mit einer Spende an eine Organisation, die diesen Frauen (auch finanzielle) Hilfe anbietet und sich für sie einsetzt, z.B. Tiqua e.V.