Dass Körper und Geist nicht unabhängig voneinander operieren, ist seit langem bekannt. Aber wie sehr unsere Gedanken die eigene Gesundheit beeinflussen, ist eines der faszinierendsten Erkenntnisse der aktuellen Psychologie. Doch welche Auswirkungen könnte dieses Wissen auf die Gesellschaft haben?
Du isst Superfoods? Du machst jeden Abend ein Pilates- oder Yogavideo? Du trackst deine Schritte und auch deinen Schlaf? Dann solltest du dir eigentlich keine Gedanken mehr machen müssen, oder? Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Wie zahlreiche neue Studien belegen, hängen die positiven Folgen eines solchen Verhaltens nicht nur davon ab, dass du es ausübst, sondern auch davon, ob du weißt, wozu. Diese neuen Erkenntnisse fasst man zusammen unter dem Begriff „Mindset“-Effekt.
Und damit ist weniger deine Arbeitsmotivation, dein Teamgeist und Selbstoptimierungswille gemeint, sondern all jene mehr oder weniger naiven Alltagstheorien, die wir nutzen, um uns die Welt zu erklären. Dass diese Vorstellungen häufig starke Vereinfachungen, falsche Übertreibungen oder schlicht widerwissenschaftliche Fehleinschätzungen darstellen, sollte nicht verwundern. Lange schien es aber so, dass dieses ganz natürliche, alltägliche Weltverstehen keine Auswirkungen auf unseren Organismus und die Gesundheit hat, solange eben das Verhalten stimmt. Das hat sich nun fundamental geändert.
Du glaubst, du isst gesund? Vielleicht ist das dein Problem
Ein Beispiel: Patienten einer medizinischen Einrichtung werden Milchshakes serviert. Die Wissenschaftler präsentieren diese Shakes mit einem Aufdruck, der zeigt, dass es sich dabei um einen sehr sättigenden Drink handelt, mit extrem vielen Kilokalorien, viel Fett wie auch Zucker („Indulgence: Decadence you deserve“). Danach zeigt sich an ihrem Blutbild, was man erwarten würde: Noch lange Zeit später findet sich eine niedrige Konzentration des Hungerhormons „Ghrelin“, und auch subjektiv fühlen sich die Probanden der Studie wahrlich vollgestopft.
Eine Woche später wiederholt man das Experiment mit einer Änderung des Labels. Der Milchshake sei sehr gesund, habe wenig Kalorien und sei leicht verdaulich („Sensi-Shake. Guilt-Free Satisfaction“). Man ahnt es vielleicht schon, tatsächlich ist es der exakt gleiche, industriell hergestellte Milchshake wie eine Woche zuvor. Doch faszinierenderweise deuten alle Körperdaten (Sättigungshormone, Blutzuckerspiegel etc.) bereits darauf hin, was sich subjektiv in der Wahrnehmung bestätigen wird: Schon wenig später kam der Hunger zurück. Übrigens: Der Milchshake war von ziemlich durchschnittlicher Qualität in Fragen der Nährwerttabelle.
Placebo- versus Mindset-Effekt
Also selbst bei materiell identischer, realer Ausgangslage finden sich in solchen Tests unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf Körperwerte, die sich sonst fast unmöglich durch unsere Gedanken regulieren lassen. Das ist auch der wesentliche Unterschied zum Placebo-Effekt. Die „outcomes“ eines Placebo-Effekts basieren eigentlich immer auf einem notwendig falschen Glauben, eine Medizin erhalten zu haben, wobei man eigentlich nur Zuckerperlen bekommen hat. Placebo bestimmt also, was noch an Wirkung übrigbleibt, wenn man sonst alle Wirkstoffe weglässt; während der „Mindset“-Effekt eben beschreibt, was noch an „Idealfaktoren“ hinzukommt, soweit die Wirkstoffe beziehungsweise das Verhalten gleichbleiben.
Während der Placebo-Effekt immer von der Notwendigkeit einer Intrige ausgeht, können „Mindset“-Effekte auch ohne Lügen auskommen; doch manchmal führt die Wahrheit dann eben auch zu negativen Effekten. Das kann dann wiederum unter dem Begriff „Nocebo-Effekt“ diskutiert werden. Die populär gewordene Milchshake-Studie zeigt vor allem eine kontraintuitive Erkenntnis auf: Wenn man dem Mehrheitsglauben verfallen ist, dass nur Kalorienreiches wirklich satt macht, wird man mit dem Bewusstsein, am Mittag etwas „Gesundes“ zu essen, auch bedeutend schneller wieder Hunger bekommen und vermutlich früher den nächsten Snack oder ähnliches zu sich nehmen.
Der beste Sport ist der Sport, von dem du weißt
Diese Effekte zeigen sich längst nicht nur bei der Ernährung. Viele Personen sind in ihrem Job körperlich sehr aktiv - da sie aber keinen Sport in der Freizeit treiben, glauben sie dennoch, sie würden sich nur unterdurchschnittlich bewegen. Wenn man es aber schafft, dass die Personen ihren Job letztlich als vollwertigen Sport ansehen, treten tatsächlich exakt jene körperlichen wie psychologischen Effekte ein, die man erwarten würde, wenn jemand sportlich aktiv wäre.
Beispielsweise musste man der Testgruppe von Zimmermädchen nur mit gewisser Autorität erklären, dass allein das Wechseln von Spannbettlaken einen sehr förderlichen „Stretch“ darstellt und ihre Arbeitsaufgaben zum Teil körperlich gleichzusetzen sind mit sportlichen Aktivitäten, um ohne Veränderung des Verhaltens schon kurze Zeit später deutlich bessere Körperwerte aufzeigen zu können als bei der Kontrollgruppe, die weiter unter dem alten „Mindset“ arbeiteten.
Wissen um Prozesse erweist sich als hilfreich
Aber auch eher außeralltägliche Verhaltensformen zeigen diese Effekte. Eiskaltes Duschen ist sehr gesundheitsfördernd – aber nur, wenn sich darin eine eigene Entscheidung manifestiert und vermutlich nicht, wenn man dabei an „Putins Gashahn“ denken muss. Falls man sich einer Fastenkur unterwirft, zeigt dies völlig andere Ergebnisse als das Hungern aufgrund von Nahrungsknappheit. Wenn man sich absichtlich beim „Hot Yoga“ ausschwitzt, hat das andere körperliche Effekte als im Sommer Straßenbau zu betreiben.
Aber auch medizinisch zeigt sich, dass beispielsweise die Allergietherapie bedeutend bessere Erfolge zeigt, wenn die Patienten von den Prozessen in ihrem Körper wissen und auch die unangenehmen Nebenwirkungen wertschätzen, weil sie eben zeigen, dass die Therapie wirkt. Die generelle Erkenntnis ist also eindeutig: Wir sollten uns alle stärker mit unserer Nahrung, dem eigenen Gesundheitsverhalten und den Prozessen in unserem Körper beschäftigen, um tatsächlich in dem Maß von unserem Verhalten zu profitieren, wie es mit Leib und Seele möglich wäre.
Die konstruierte Gesellschaft und ihre Fallstricke
All das ist hochgradig spannend und wird hoffentlich auf individuellem Niveau viele Leben verbessern. Aber mit intellektueller Redlichkeit sollte man sich auch bereits über soziologische Nebenfolgen dieser bahnbrechenden Ergebnisse Gedanken machen. Denn das intellektuelle Denken sollte sich bemühen, vor der Welle zu surfen und nötigenfalls vor Entwicklungen warnen, bevor diese eintreten. Beispielsweise muss etwas so Unschuldiges, wie die Glücksforschung, verdächtig werden, wenn wir sehen, wie die Ergebnisse dieser Forschung zum zentralen Ausgangspunkt in der Manipulation durch Werbung und Propaganda geworden sind.
Glück wird hier zum gesellschaftlichen Pech. Mit der „Mindset“-Forschung könnte dieser Neusprech fortgeführt werden: Armut wird zu Askese, Einsparung zu Wohlstand, körperliche Arbeit zum Privileg, falscher Glaube zum richtigen. Für jede Erkenntnis aus den Menschenwissenschaften gibt es einen Prüfstein: Falls das Wissen um diese Effekte einmal so allgemein bekannt sein sollte, wie dass die Erde rund ist, was müssen wir dann erwarten? Wissen, das auf Mikroebene extrem hilfreich ist, kann auf Makroebene zur Zumutung werden.
Glaube über dem realen Verhalten?
Wird es vielleicht in Fragen von „public health“ bald stärker um den Glauben gehen als um reales Verhalten? Wie viele Tote gehen auf die Nocebo-Effekte der Schreckensbilder auf der Zigarettenpackung zurück, weil die Raucher sich genau diese zu sehr „zu Herzen“ nahmen? Brauchen wir vielleicht eher neue quasi-religiöse Ernährungsglaubenssätze als harte „Ernährungsdiktatur“? Wie müsste man mit den Erkenntnissen neu über „Nudiging“ nachdenken – gibt es beispielsweise Implikationen für den „Nutri-Score“?
Sollten wir – nun ein wenig zynisch – bald unseren Sozialstaat wie auch die Entwicklungshilfe kombinieren mit „Mindset“-Trainings? Im Winter wird das kalte Wasser mit seiner Heilkraft gepriesen, im Sommer die Hitze, für die andere in der Trockensauna bezahlen, wenn das Essen knapp wird, legt man eben eine Fastenkur ein. Man muss die Armut nur zu genießen wissen. Und selbst Krankheiten können noch als Herausforderung für die Steigerung des eigenen Immunsystems verstanden werden.
Glaubensbekenntnisse eines neuen rationalen Denkens
Was passiert also, wenn die Theorie des Mindset-Effekts selbst Teil des allgemeinen Mindsets wird? Wie die Theorie selbst sagt, wird wissenschaftliche Erkenntnis gesellschaftlich verarbeitet und in eine alltagsnützliche Form gebracht. Auch die Warnungen der Mindset-Forscher, nicht den entscheidenden Schritt zu weit zu gehen und wirklich alles nur noch als Glaubensfrage darzustellen, würde vermutlich lange nicht von allen gehört werden.
Die Herausforderung wird sein, das objektive, rein positivistische Heilswissen zu schützen, während man gleichzeitig auch die Stärke der subjektiven Glaubenseffekte lehrt – ohne das eine gegen das andere auszuspielen. Der Streit um die Gefährlichkeit von und sinnvolle Maßnahmen gegen Corona könnten dann tatsächlich in die nächste Runde gehen. Es reicht nämlich nicht mehr, eine Impfung zu erhalten, eigentlich muss man auch an sie glauben. Wie man das vor Restaurants und Diskotheken kontrollieren möchte? Ich weiß es nicht, aber angeblich hat die Religion hier eine gewisse Erfahrung.
Neue gesellschaftliche Anschlussfragen
Die Wirtschaft wiederum versteht sich bereits darauf, sowohl die Lust an dem neuen, richtigen „Mindset“ zu befriedigen als auch gleichzeitig neue Produkte zu verkaufen. Kaltes Wasser, extreme Hitze, Viren, Hunger – alles wird nun auch konsumierbar. Gleichzeitig erhalten die Arbeitgeber neue Motivationshandbücher an die Hand und über Gesundheit am Arbeitsplatz muss ebenfalls neu nachgedacht werden. Nach der „gamification“ kommt die „sportification“.
Es ergeben sich also spannende, aber auch sehr komplexe Anschlussfragen für die Gesellschaft und ihre Teilbereiche. Denn eines muss betont werden: Nicht immer ist es das wissenschaftlich „korrekte“ Wissen, das uns und unserer Gesundheit hilft. Ein letzter Vorschlag eines Selbstexperiments? Lies doch beim nächsten Mal bei der Einnahme von einem Schmerzmittel die gesamte Liste der Nebenwirkungen und protokolliere dann fein säuberlich jede Stunde auf einer Skala von eins bis zehn, wie stark du diese verspürst. In diesem Sinne bleibt abzuwarten, ob „Mindset“ das neue Opium für das Volk wird.
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