Viele Menschen nutzen Alkohol in Krisensituationen als einen Bewältigungsmechanismus. Daraus kann besonders in Zeiten der sozialen Isolation ein Suchtproblem werden. Gerade jetzt ist es wichtig, den eigenen Konsum zu reflektieren und sich im Ernstfall Hilfe zu suchen.

„Das kann man sich ja nur noch schöntrinken!“ Diesen oder ähnliche Sätze haben viele Menschen während des Corona-bedingten Shutdowns geäußert. Mittlerweile gibt es sogar einen Quarantäne-Cocktail – den Quarantini aus Vodka, Zitrone und Honig – der angeblich nicht nur gut schmeckt, sondern auch noch das Immunsystem stärken soll. Vorweggenommen: Alkoholische Getränke helfen grundsätzlich nicht gegen Corona, sondern schwächen unser Immunsystem. Auch wenn ein einzelner Drink uns nicht unbedingt sofort zum Hochrisikopatienten macht, ist die Theorie der „Virentötung“ von innen durch Alkohol schon lange widerlegt worden. Daneben haben Quarantini und Co. allerdings noch ein weiteres, tiefergehendes Problem mit sich gebracht: Normalisierung vom übermäßigen Alkoholkonsum.
37 Prozent der Deutschen tranken während des Shutdowns häufiger
Eine Umfrage des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) hat ergeben, dass während des Shutdowns rund 37 Prozent der Deutschen deutlich häufiger und mehr Alkohol konsumiert haben als vor Corona-Zeiten. Die Studie befasste sich auch mit weiteren Rauschmitteln wie zum Beispiel Zigaretten und stellte dabei ähnliche Ergebnisse fest: Die Ausnahmesituation der Pandemie hat für viele Menschen einen optimalen Nährboden für problematischen Konsum bereitet. Laut der Veröffentlichungen des ZI spiele besonders die psychische Belastung eine große Rolle. Dabei beziehen sie sich auf einen Leitfaden, den die WHO schon zu Beginn der Krise veröffentlicht hatte. Hier heißt es, Alkohol würde häufig genutzt werden, um sich in privaten oder gesellschaftlichen Krisensituationen zu beruhigen und die eigenen Sorgen zu mindern. Außerdem begünstige das Wegbrechen der gewohnten Alltagsstruktur ein gesteigertes Konsumverhalten.

Besonders der Mangel an Alltagsstruktur fällt auch bei jungen Menschen ins Gewicht. Kathrin Finkbeiner, Leiterin der Suchthilfe der Caritas in Heilbronn, sieht hier Langeweile und Einsamkeit als entscheidende Faktoren: „Jugendliche möchten neue Dinge ausprobieren und sich von ihren Eltern abgrenzen. Sie wollen sich ihre eigenen Strukturen erschließen und genau das geht eben nicht, wenn sie allein mit der Familie zuhause bleiben müssen.“ Deswegen sei gerade bei jungen Menschen die Gefahr des übermäßigen Konsums bei den stufenweisen Lockerungen noch größer als während des eigentlichen Shutdowns. Sie hätten nun eine Art Nachholbedarf und würden daher tendenziell häufiger über die Stränge schlagen, als sie es noch vor der Krise getan haben, so Finkbeiner. In dieser Altersgruppe ist zudem oft ein Mischkonsum von Alkohol und anderen Substanzen normal, was das Suchtverhalten ebenfalls stark beeinflussen kann.
Wie man Alkoholprobleme erkennen und angehen kann
Wer beim Austesten seiner Grenzen auch mal über die Stränge schlägt ist nicht gleich Alkoholiker. Vielmehr kommt es auf wiederkehrende Verhaltensweisen an, die auch im Alltag zum Problem werden. Einige der klassischen Beispiele für solche Verhaltensweisen sind zum Beispiel das Verheimlichen des eigenen Konsums vor Freunden und Familie, das Vernachlässigen von Pflichten oder auch das Kleinreden des eigenen Trinkverhaltens. Wie bei allen Suchtkrankheiten gibt es aber auch beim Alkoholismus keine Liste an Merkmalen, die auf jede erkrankte Person zu 100 Prozent zutrifft. Deswegen ist es besonders wichtig, den eigenen Konsum selbst zu reflektieren. Dazu gibt es zum Beispiel Hilfe in Form von Selbsttests – Kathrin Finkbeiner empfiehlt hier vor allen Dingen kenn-dein-limit.de. Das ist das unabhängige Informationsportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, welches mit Selbsttests und vielen Informationsquellen dabei helfen kann, ein besseres Verständnis über Alkohol, Rausch und bewussten Konsum zu erlangen.
Für diejenigen, die ein Suchtproblem bei sich erkennen, sind vor allen Dingen Unterstützung und Beratung wichtig. Das geht sowohl in persönlichen Gesprächen in Beratungsstellen wie auch online in Form von E-Mails. Die Caritas hat in den meisten Städten Deutschlands lokale Beratungsstellen, an die man sich sowohl im Netz wie auch persönlich jederzeit wenden kann. In solchen Gesprächen wird erörtert, worin das Problem genau liegt – geht es ausschließlich um Alkohol oder sind noch andere Substanzen ein Problem? Wie wurde festgestellt, dass es ein Problem gibt? Was ist die Motivation, das Problem jetzt anzugehen? Mit all diesen Fragen erarbeiten Hilfesuchende und Berater dann gemeinsam eine Art Plan mit kleineren Zielen und den nächsten Schritten. Dieses Modell steht auch für Angehörige oder Freunde offen, die unter dem Suchtverhalten ihrer Mitmenschen leiden.
Alkohol als coole Kulturdroge: Vielen fällt es schwer, Hilfe in Anspruch zu nehmen
Was sich in der Theorie vielleicht simpel anhören mag, ist in der Praxis häufig mit einem langen und komplizierten Leidensweg verbunden. Das beobachtet auch Kathrin Finkbeiner in den Beratungsstellen immer wieder: „Alkohol ist in Deutschland immer noch eine Kulturdroge. Da muss der Leidensdruck oft sehr groß werden, bevor man sich Hilfe holt. Die Angst ist zu groß, dass man vielleicht schwach wirken könnte.“ Dasselbe Problem würde häufig auch Angehörige davon zurückhalten, Hilfe in Anspruch zu nehmen: Subjektives Schuldempfinden darüber, dass man die betroffene Person nicht allein „retten“ kann spielt hier eine große Rolle.
Trotz dieser häufig verfälschten Eigenwahrnehmung ist eigentlich das exakte Gegenteil der Fall, meint Kathrin Finkbeiner. „Es zeugt immer von Größe, wenn man diese Probleme anerkennt und trotz der inneren Schranken angeht.“ Sie wünscht sich, dass in Zukunft die Scham rund um das Thema abgebaut werden kann und sich mehr Menschen dazu bereit fühlen, Hilfe dann in Anspruch zu nehmen, wenn sie nötig ist. Um solche Situationen richtig einordnen zu können ist es wichtig, den Konsum regelmäßig und mit einem fundierten Hintergrundwissen zu reflektieren. Ausreißer und Feierabendbier machen uns nicht im nächsten Moment suchtkrank – Stressbewältigung im Rauschzustand kann aber besonders in Krisenzeiten mit eingeschränkten Sozialkontakten problematisch werden.
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