Bin ich bei Fremden oder Freunden? Ich weiß es nicht. 3 Tage war ich zu Besuch bei Bashir und seiner Familie in Italien. Kurz zuvor hatten wir uns in Deutschland kennengelernt, dann wurde sein Asylantrag abgelehnt und er musste ausreisen. Als er mich einlud, folgte ich seiner Einladung mit gemischten Gefühlen. Wer waren die Menschen, seine Familie, eigentlich? Unter welchen Umständen lebten sie? Wie würden sie mir begegnen? Ich begab mich auf die Suche nach der Wahrheit. Eine Reportage.

Worauf, um alles in der Welt, habe ich mich da eingelassen?
Ich habe Bauchschmerzen vor Angst und werde wach. Kann ich diesen Männern vertrauen? Sie haben den Vorhang zugezogen. Ihre Stimmen, ihre Sprache, verstehe ich nicht. Ein leises Murmeln hinter den Treppen.
Ich bin bei Einwanderern, Afrikanern, Freunden, vielleicht sogar Illegalen? Ich weiß es nicht. Ich muss auf Toilette, schiebe den Vorhang beiseite und tapse durch die Küche mit Tisch und Leuten. Alle schauen mich an, bieten mir etwas zu essen. Es ist irgendetwas um fünf Uhr nachts herum. Ich danke, grüße, verschwinde auf der Toilette und dann wieder im oberen Zimmer. Hier schläft eigentlich der Hausherr und Bashir, dessen Einladung ich gefolgt bin. Im unteren Zimmer ist Platz für sechs weitere Männer. Hinter dem Putz sieht man das Mauerwerk. Ich dusche mit Eimer und Kelle. Ein Pringelsregal, wahrscheinlich aus dem Supermarkt, ziert die Küchenzeile. Es riecht etwas nach Gas. Bin ich doch sonst eher hypochondrisch veranlagt, stört mich hier der Schimmel an der Badezimmerdecke, den ich erst für Ornamente hielt, nicht. Wo, um alles in der Welt, bin ich? Und worauf, um alles in der Welt, habe ich mich eingelassen?
Bashir und ich kennen uns seit Herbst 2015, als wir uns in der großen Turnhalle trafen, in der er einquartiert wurde. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er musste Deutschland den Rücken kehren, weil sein offizieller Status „Wirtschaftsflüchtling“ lautet. Dabei hätte er Deutschland sicherlich sogar die Füße geküsst. Er liebt Deutschland. Dann kam die Einladung.
Das Ticket in die Freiheit
Es ist Sommer, Fußball WM, ich mache mich auf den Weg. Was erwartet mich, was begegnet mir? Kann ich diesen Menschen, meinem Freund vertrauen? Wir alle stellen uns diese Frage. Und viele finden eine Antwort bevor sie überhaupt eine gesucht haben. Ich suche sie. Also gehe ich. Ich sitze im Zug; ein EuroCity mit Direktverbindung zwischen deutscher und italienischer Provinzstadt. Grenzenloses Glück für alle Interrailreisenden. Ich passiere Rosenheim, komme durch Österreich. Eine traumhafte Bergwelt zieht an mir vorüber. Seen, Gipfel, Wälder. Ich sitze mit Urlaubern, Wanderern und Sinnsuchern zusammen. Es ist eine angenehme Unterhaltung über Lebensfragen, Lebenswege, Urlaube und Glaube. Die Zeit vergeht rasch. Ich nicke immer wieder ein, habe die Nacht zuvor nur wenige Stunden, wenn überhaupt, geschlafen.
Aussteigen könnte ich überall. Ich habe das Ticket, ich habe die Freiheit. Außerdem habe ich einen deutschen Personalausweis. Mein vielleicht größtes Ticket. Was früher nur Tinte auf Papier war und vielleicht noch einen Stempel hatte, ist heute um Plastik und einen Chip ergänzt. Der Personalausweis gewährt mir sämtliche Rechte, die ich als deutscher Staatsbürger genieße. Dieses kleine Stück Plastik ist das Kostbarste, was ich mit mir herumtrage – abgesehen mal von meiner Bibel. An einer kleinen Bahnstation in Norditalien nutze ich ein Stehklo. Ich werde immer nervöser. Während der malerischen Fahrt durch Österreich und der Gespräche war das eigentliche Vorhaben zunächst in den Hintergrund geraten: Die Suche nach der Wahrheit.
Die letzten Kilometer führen durch Weinbaugebiete. Die Vegetation und der Baustil ändern sich. Italienischer Charme erinnert mich unweigerlich an unsere Familienreisen von früher. Bröckelnder Putz gehört einfach zur heilen Welt in Italien, denke ich naiv. Und schließlich fahre ich ein. Zielbahnhof. Beim Umschauen erhasche ich einen Blick auf das mir vertraute, rundliche Gesicht. Bashir. Vorfreude sieht anders aus, schießt es durch meinen Kopf. War es richtig, zu kommen? Ich weiß nicht, wie mein Blick ist. Ich freue mich tatsächlich, ihn zu sehen, nach so langer Zeit – bei aller Unsicherheit. Denn: Wer war es, der mir so oft geholfen hatte? Wer war es, der mir zu meinem ersten Umzug einen Satz Löffel, Gabel und Messer überreicht hatte? Bashir war es, der mit mir Brennnesseln pflücken war. Aber Bashir sieht nicht glücklich aus, nicht befreit. Er hat sich verändert.
Ein ungleiches Paar
Die Luft ist warm in der Stadt. Mediterran. Ich fühle mich im Urlaub. Wir verlassen den Bahnhofsvorplatz und laufen entlang der promenadenartigen Straße. Reichlich Platz, sogar für Fahrradfahrer. Aber es ist fast nichts los. Wie ausgestorben. „Sind alle weg“, sagt Bashir später. Im Urlaub an der Küste oder in Slowenien, wo zum Einkaufen alles günstiger ist. Nach dem ersten Smalltalk gelangen wir sehr schnell zu dem, was unsere Freundschaft ausmacht; Ehrlichkeit. „Mir geht es gut, danke, wie geht es dir?“ „Auch gut.“ Schön. „I am not good, I am feeling too bad.“ „I am sad. It is good that I have work, for time passing, but besides that, it is hard.“ Liest man zwischen den Zeilen, und manchmal auch auf den Zeilen. „I miss Germany too much.“
Er zeigt mir ein Bild von seinem Sohn in der Heimat. Ab und zu schreibt er mit ihm. Ab und zu sind sie im Kontakt. Bashirs Sohn ist dabei, ein junger Mann zu werden, mit Träumen, wie er sie einst hatte. Jetzt liegen zwischen ihnen sehr viele Kilometer. Bashir fragt nach meinen Freunden und ehemaligen Arbeitskollegen, die er selber gut kannte: Susi, die umtriebige alte Sozialarbeiterin mit krausem Haar. Bene und die anderen, die ihm einen Deutschintensivkurs gegeben hatten, als Vorbereitung auf die Ausbildung. Leider zu spät. Das Hintergrundbild seines Handys zeigt die zweitürmige Stadtkirche meiner Heimatstadt, und wohl auch der Heimatstadt seines Herzens. Er hatte dort lange Zeit im Begegnungs-Café mitgearbeitet. Ehrenamtlich. Bashir gibt nicht so schnell auf. Er möchte wieder nach Deutschland kommen.
„You can put your bag on my cycle.“ Bashir weist auf den Fahrradträger. Ich lehne dankend ab. Wir passieren Cafés und Grünanlagen, stets im Schatten der Allee, welche in die Stadt hineinreicht. Es wird Abend. Langsam sinkt die Sonne. Im Rhythmus des Mittelmeerklimas treten die Menschen aus ihren Häusern, drehen Musikanlagen auf und beleben die Plätze, Straßen und Bars. Regelmäßig grüßt Bashir Leute mit einem leichten „Ciao“ auf den Lippen. Landsleute genauso wie Italiener. Ich freue mich, dass er hier Freunde gefunden hat. Er bleibt für kurze Wortwechsel stehen, stellt den deutschen Gast vor. Bashir war schon immer höchst aufgeschlossen und kontaktfreudig gewesen. Er kannte allerorts rasch die wichtigen Leute und hatte dadurch gewisse Vorzüge. Nicht zuletzt auch in der Gemeinschaftsunterkunft, wo die Information durchsickerte, dass er abgeholt werden sollte.
Schon bei den Griechen hatte er schnell Anschluss gefunden, einen guten Job und hilfreiche Hände. „Germany is different. Italia is different. Die Stimmung ist hier anders.“ Wir werden gelegentlich von der Seite angesehen – es entfällt mir nicht. Tatsächlich geben wir ein ungleiches Bild ab. Eine schlacksige, weiße Langnase aus dem Norden jenseits der Alpen, neben einem von dunklen Haaren umrahmten Rundgesicht sportlichen Aussehens aus dem fernen Süden jenseits des Meeres. Ein Afrikaner, der Italienisch spricht. Ein Deutscher, der Englisch spricht. An einem Ort in Italien, heimatlos auf der Erde. Ich frage mich, wann wir endlich ankommen?
Neugierig geworden? Lest hier, wie es weitergeht: Teil II und Teil III.
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