Angekommen in Italien, bei Bashir und seinen Freunden, habe ich nun den Weg betreten, der mich der Wahrheit näher bringen soll. Sind sie Fremde oder Freunde? Was wird mich erwarten? Teil II einer Reportage.
Du hast Teil 1 verpasst? Hier kannst Du ihn nochmal lesen.
Der Tunnel
Mein Gesicht taucht sich in süßen Duft von Pinienharz und Kiefernadeln. Vögel zwitschern. Autos fahren in südländischem Temperament an uns vorüber. Feines Kopfsteinpflaster verleiht Bobbycars den Sound von Bulldozern. Vereinzelt schlendern Touristen von Schaufenster zu Schaufenster. Alle großen Marken sind vertreten. Italien ist wie ein teures Used-Look-Produkt, das alle wegen seiner Macken lieben und nie schlecht aussehen kann.
Bashir zeigt auf den Park. „Als ich noch keine Wohnung hatte, war ich oft dort.“ Große, majestätische Verwaltungsgebäude findet man an vielen Orten in der Stadt. Im Stadtzentrum zeigt Bashir auf ein Gebäude und sagt, dass seine Anhörung hier stattgefunden habe. In Deutschland werden die Anhörungen in großen Zentren durchgeführt. In Anlagen mit tausenden von Büroräumen, Verwaltungskräften und labyrinthartigen Gängen. Alles abgeriegelt und geschützt. Hier könnte man meinen, dass während der Anhörung der Fußball vom Vorplatz gegen das Fenster prallt.
Plötzlich weht mir eine kalte Brise entgegen, ich sehe mich um. Schaue in die Flanke eines dunklen Hügels. Ein Autotunnel, dessen Ende in der Ferne verschwimmt. „Hier habe ich im Winter geschlafen. Zusammen mit anderen, du erinnerst dich?“ Stimmt, wir hatten darüber gesprochen. Dieser Tunnel. Auf der einen Seite Italien, auf der anderen dann irgendwann Slowenien. Eine Grenze. Vielleicht eine Grenze der Menschlichkeit? Man bekommt in Italien Papiere, das ist sehr gut. Wirklich. Vieles andere ist aber nicht gut. Kein Essen, kein Geld, keine Wohnung. Gut, 72€ im Monat. Bashir sieht mich an „Italia receives money from the EU, but you know…“ Mafia. Korruption. Zumindest sieht das Bashir so. Zum in-Schuss-halten der Touristenattraktionen reicht es immerhin. Bashir und seine Kumpel scherzen oft über die Mafia.
Ein kleiner Dieb
Wir betreten das Haus, in dem Bashir lebt, über einen Hinterhof. Verriegelt mit doppeltem Schloss, bombensicher. „Willkommen. This is our house.“ Ich schaue nach oben, Balkons ragen von allen Seiten ins Blickfeld. Pyramidenartig geschichtet, umringt von hohen Mauern. Die Architektur hält die Hitze draußen. Mediterran mit einer Note von „Gefängnis“.
Der azurblaue Nachthimmel ist klar und die Sterne schauen schüchtern über die Stadt. Ich soll leise sein. Mein Begleiter legt den Zeigefinger auf den Mund, „Pssst“. Fahrräder reihen sich im Hof, das Fortbewegungsmittel der Wahl. Sie alle haben einen Namen, wie ich am nächsten Tag von einem zwinkernd-stolzem Jungen erfahre. „BMW“, „Mercedes“, oder „Ferrari“. Ob in Deutschland oder Italien. Immer noch träumt Bashir von einem Auto.
Wir öffnen abermals zwei Türen und stehen schließlich in der Stube. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung für eine gute Handvoll Männer – jüngere wie ältere. Studenten-WG sieht anders aus. Ein Fernseher mit afrikanischem Programm läuft backstage. Ousman begrüßt mich, wir werden alsbald ziemlich beste Freunde. Ich darf duschen, lege meinen Rucksack ab, bevor wir das heiße Wasser aus der Küche holen.
Die Schlafzimmer betritt man barfuß. Hier liegen nur Matratzen und ein bodenfüllender Teppich. Nachts stemmt sich ein einzelner Ventilator prustend gegen die drückende Hitze und weht Luft in Bashirs Gesicht. Aber sobald er eingeschlafen ist, huscht ein kleiner Dieb durch die Nacht und stellt den Windzug auf sich ein. Bashir tadelt Ousman dann am nächsten Morgen: „Ousman is a thief“, und wir alle lachen darüber.
Im Zimmer des Hausherrn
Ich werde behandelt wie ein König und weiß oft nicht, wie ich mich verhalten soll. Ob es der Kultur meiner Gastgeber entsprechend richtig wäre, all die Angebote auszuschlagen oder sich darauf einzulassen. „Here, Coke!“ Ständig werden mir Drinks angeboten und ich frage mich, ob es ansonsten wohl auch so üppig davon gibt. Jedenfalls bechern es meine Mitbewohner literweise weg. Was mich nicht wundert, bei der Hitze. Bashir öffnet den Kühlschrank, deutet auf Bananen und Joghurt: „If you want Banana, please, take, it is for you.“ Andere kaufen mir Vanille-Eiscreme, gehen zum Chinesen und bringen mir „Fried Rice“ – glutenfrei. Ich schwimme oft mit und hoffe, so wenig Fehler wie möglich zu machen. „Sorry, I can’t eat bread, I need gluten free food.“
Mir wird das Zimmer des Hausherrn vorgestellt. Mein Schlafplatz. Die erste Nacht schlafe ich dort. Ich, Jüngling, auf dem Sofa. Der Hausherr mit einer dünnen Matratze auf dem Boden. Offizieller Wortlaut: Er schläft immer auf dem Boden, seit seiner Kindheit. Ist außerdem besser für den Rücken. Tags liegt er oft auf dem Sofa und schaut in sein Handy. Kontakt zur Familie in der Heimat. Eine kleine Puppe liegt im Schrank daneben. Einmal finde ich sie auf dem Fensterbrett, in der Sonne. Für die folgenden Nächte bin ich zu den anderen gewechselt. Ich weiß nicht, wie viele wir sind. Mal kommt einer hinzu, mal verlässt einer den Raum. Offiziell wollte ich meinen Zimmerwechsel wegen der Mücken. Tatsächlich halte ich es einfach für respektvoller gegenüber dem Hausherrn.
Auch versäume ich es, ein Gastgeschenk mitzubringen und schäme mich dafür. Zwar hatte ich Bashir massiv bei Anwaltskosten unterstützt und darin einen gewissen Ausgleich gesehen. Unbezahlbar ist aber die Gastfreundschaft und Selbstverständlichkeit, mit der ich hier aufgenommen werde. Beschämend. Abseits der gängigen Kosten-Nutzen-Rechnung.
Was, ich bleibe nur wenige Tage? Die Mundwinkel gehen nach unten. Du kannst auch einen Monat bleiben. „One week!“ Eine Handbewegung, die wohl „mindestens“ heißen soll. Das Schlimme: sie meinen es ernst. Glaube ich zumindest. Ich habe die Erleichterung im Hinterkopf, die mich befällt, wenn meine Gäste das Haus nach einer langen Feier wieder verlassen haben. Ich liebe Gäste. Ich liebe Feiern. Und doch bin ich jedes Mal aufs Neue erleichtert, wenn alles wieder vorüber ist. Schon nach einem Tag. Anders bei diesen Männern. Bei dieser Kultur. Diesem Glauben. Oder nicht? Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass sie lernen mussten, zusammenzuhalten. Nachts im Tunnel, zur Winterzeit. Ich weiß nicht, wie sehr sie sich zusammenraufen mussten, allein des Überlebens wegen. Der erste Abend ist wirr. Ich bin überfordert. Mit den Menschen. Mit der neuen Umgebung. Mit der Gastfreundschaft und mit meiner eigenen Angst vor dem Neuen. Ich plane am Sonntagmorgen in die Kirche zu gehen, verschlafe aber.
Afrikanische Tradition küsst italienische Siesta
Ich stehe spät auf. Die anderen noch später. Es ist der erste Morgen. Oder schon Mittag. Alles ist ruhig, ich schaue aus dem Küchenfenster, nachdem die Männer bis tief in die Nacht in der Küche gesessen hatten. Ich werde noch oft aus dem Fenster schauen. Nach und nach gesellen sich meine Mitbewohner dazu. Ousman, den ich bereits am Vorabend kennenlernen durfte; ein schlanker Mann, der mit schweren Hanteln trainiert. Humorvoll und fünf Mal täglich am Beten. Bashir, mein Freund aus Deutschland. Ein Bär, eigentlich zum Knuddeln, aber hart geworden durch die Zeit – irgendwo zwischen Glauben und Verzweiflung, Hoffnung und Ernüchterung, Christentum und Islam. Ibrahim, der Hausherr mit wachem Blick, stets ordentlich und derjenige, der die Instruktionen verteilt. „When you have problem, tell me“, pflegt er vorm Zubettgehen an mich gewandt zu sagen.
Dann ist da noch ein Kumpel von Ousman, ebenso freundlich wie all die anderen, der aber schon bald wieder in der Nacht verschwindet. Erst am letzten Tag taucht er wieder auf, mit einem Karton. Riesengroß, viel größer als er selbst. Ich weiß nicht, wie er ihn transportiert hat. Voll mit Artikeln für den Straßenverkauf. Er will mir einen Teil schenken, „Please“, ich lehne dankend ab und schüttle heftig den Kopf. Als Urlaubskind mit meiner Familie hätte ich es ihm sicherlich aus der Hand gerissen. Dann ist da noch Sanjang, ein ruhiger Mann auf Arbeitssuche. Er redet nicht viel. Ich verliere bald den Überblick. Immer wieder kommen und gehen Leute. Einige waren schon in Deutschland, sprechen mit mir in meiner Muttersprache. Englischbrocken und Bashir helfen mir bei der Kommunikation.
Es ist Sonntag und wird immer heißer draußen. Bald schon drängt es mich hinaus in die Stadt, um der noch größeren Hitze des Getummels in der Wohnung zu entfliehen, aber ich soll warten. Sie kochen. Es wird noch heißer. Sie setzen sich wieder. Schnippeln Gemüse. Rühren den Topf. Kochen. Sitzen wieder. Kochen. Also warte ich. Denke, es handelt sich um ein paar Minuten. „We eat first.“ Am Ende ist es Abend, ich bin ungeduldig, das Gastmal fertig, der Kühlschrank leer, die Mägen schließlich voll. Ich merke schnell, dass ich hier meine Vorstellungen vom deutschen Lebensrhythmus an den Nagel hängen muss. Afrikanische Tradition küsst italienische Siesta. Mezzo Mix, volles Programm. Ich kann es kaum erwarten, als wir endlich die Wohnung verlassen.
Sightseeing und Panoramablick
Ich wirke neben meinen Begleitern nicht wie der einzige Tourist. Ibrahim hat sich schick gemacht. Ein traditionelles Gewand, das er beim Setzen geschickt über die Stuhlkante gleiten lässt. Dazu edle Schuhe. Auch Bashir ist frisch geduscht. All die Tage wechsle ich am wenigsten die Kleidung. Für mich ist das Funktionswäsche. Für andere Armut.
Wir gehen gemütlich durch die Stadt. Schlendern. Passieren den zentralen Platz. Ich fühle mich wie mit meinen Freunden auf Sightseeing. Und tatsächlich ist es für sie ein Höhepunkt. Nicht aber der Besuch am fremden Ort, sondern der fremde Besucher in der neuen Heimat. „One day, you visit me. We go to my mountains.“ Ibrahim lädt mich ein und Ousman und ich schauen durch ein Fernglas, das er hervorgezaubert hat. Sie kennen die städtische Burganlage, die wir besichtigen, bereits und wirken dennoch, als würden sie mit mir zum ersten Mal die gewaltigen Mauern und Befestigungsanlagen erkunden. Ein Feigenbaum hat sich einen Spalt gesucht und Wurzeln geschlagen, trägt Früchte und ich frage mich, wie er es dort nur aushält, in dieser Steillage. Ich schaue zu meinen Freunden. Kleine Apfelbäume mit noch kleineren Früchten zieren die Wehrmauer. Ousman und ich pflücken ein Paar – ich spucke meinen direkt wieder aus. Schmeckt wie gespritzt. Wir machen Fotos. Erinnerungen und Lebenszeichen auch für die Familie. Die Burg ist bereits geschlossen, wir schießen die Bilder also draußen vor der Hauptmauer.
Stadtwärts macht sich ein großartiges Panorama über das urbane Dächermeer auf. Welch fantastische Aussicht. Ich frage mich: Hat Bashir die gleiche Perspektive? Ousman und ich turnen etwas herum, dann gehen wir heim. Kehren der Burg Europas den Rücken zu. In der Stadt passiere ich ein Gatter. Es versperrt den Zugang zu einem großen Innenhof, wo im Zweiten Weltkrieg viele Systemkritiker hingerichtet worden sind. Ich sag nichts und gehe weiter. Aber wohin?
Du bist gespannt auf das Finale? In Teil III erfährst Du, wie die Reise endet.
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