Keine Sportart polarisiert so sehr wie der Fußball. In den vergangenen Jahren hat sich der Fußball verändert, er ist anspruchsvoller und qualitativ besser geworden. Doch er wird auch immer eindimensionaler. Wo sind die alten Tugenden? Ein Kommentar von Marc Wiese.

Der Fußball hat sich in den vergangenen zehn Jahren extrem weiterentwickelt. Das Spiel ist geprägt von Taktik-Füchsen á la Pep Guardiola, Diego Simeone oder Thomas Tuchel. Diese Trainer coachen ihre Teams Woche für Woche zu technischen und taktischen Meisterleistungen. Dabei heraus kommen „Diametral abkippende Sechser“ oder eine „variable Dreier/Fünferkette“. Eine moderne Spitzenmannschaft muss sich heutzutage auf verschiedenste Gegner und Spielsituationen einstellen können. Sie muss in der Lage sein, bei bestimmten Gegebenheiten blitzschnell zu reagieren und die Anordnung zu ändern. So wird der Fußball immer hochwertiger. Von der Schnelligkeit des Spiels im Vergleich zu früher gar nicht zu sprechen. Doch ist all das noch attraktiv für den Zuschauer, den Fußball-Fan? Und vor allem: Sind die unzähligen taktischen Kniffe wirklich immer so hilfreich?
Ich sage: Es braucht wieder mehr von den alten Tugenden! Wie oft sieht man heutzutage noch einen satten Distanzschuss in den Winkel? Definitiv seltener als zu Zeiten eines Rainer Bonhof oder Steven Gerrard. Wo sind die typischen Flankengeber wie damals ein Stan Libuda oder David Beckham? Was damals ein „klassischer Neuner“ mit eingebauter Torgarantie war, ist heute ein „falscher Neuner“, der nicht mal im Strafraum steht. Es bringt selbst dem taktisch klügsten Team nichts, wenn ihm eine mindestens genauso clevere Mannschaft gegenübersteht. Da kann noch zehn Mal versucht werden, den Ball mit den schönsten Kombinationen „ins Tor zu tragen“.
Individualität schlägt Homogenität
Der Fußball ist so wie er heute gespielt wird qualitativ sicher besser, er ist schneller, intensiver. Die Profis werden im Training immer homogener ausgebildet. Es geht um technische Perfektion, Präzision und Schnelligkeit – sowohl im Kopf als auch auf den Beinen. Man sollte jedoch aufpassen, dass die Spieler nicht zu ähnlich trainiert werden. Man kann schließlich keine Schablone über den Fußball-Nachwuchs legen. Jedes Talent muss einzeln betrachtet und individuell gefördert werden. Natürlich muss man einem jungen Spieler seine Schwächen aufzeigen und mit ihm daran arbeiten. Allerdings ist es mindestens genauso wichtig seine Stärken nicht nur zu fördern, sondern sie bis zum Maximum auszureizen. Warum war David Beckham zu seinen besten Zeiten wohl als „Flankengott“ und „Freistoßungeheuer“ bekannt? Weil er immer und immer wieder an diesen Eigenschaften gearbeitet hat. Sicher hat auch Beckham seine spielerischen Schönheitsfehler gehabt. Dafür hat er seine Teams mit außergewöhnlichen Leistungen zu großen Triumphen verholfen – und sich selbst als englische Fußballlegende unsterblich gemacht.
Natürlich ist es gut für den Fußball, wenn das technische Niveau immer höher wird, es kaum noch Spieler gibt, die fast ausschließlich über die Physis kommen. Trotzdem braucht es wieder mehr Spezialisten mit Kernfähigkeiten. Die grundlegenden Tugenden des Fußballs müssen wieder mehr Einzug ins Spiel bekommen. Denn auch der moderne Fußball kommt irgendwann an seine Grenzen. Und dann braucht es wieder Spieler, die die Kugel kompromisslos mit dem Vollspann in die Maschen jagen.
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