Noch mehrere Tage später gibt es in der kleinen Stadt östlich von Düsseldorf kein anderes Gesprächsthema. Normalerweise geht es hier friedlich zu. Wer nach Erkrath zieht, hat meist genug von der Großstadt; vor allem Rentner und junge Familien haben sich hier angesiedelt. Die Bluttaten am 28. Februar zerstören den Frieden jedoch mit einem Paukenschlag. Als erstes bemerken die Anwohner den Rauch, der gegen Mittag aus einem Bürogebäude aufsteigt. Innerhalb kürzester Zeit verbreitet sich dann die Nachricht des Amoklaufs: Ein Mann hat in einer Düsseldorfer Anwaltskanzlei eine Frau mit einem Messer getötet und zwei weitere Menschen verletzt. Danach legte er ein Feuer. Auch bei dem brennenden Gebäude in Erkrath handelt es sich um eine Anwaltskanzlei, wieder wurden eine tote Frau und ein schwer verletzter Mann aufgefunden. Schnell vermutet man einen Zusammenhang.
Während die Polizei nach dem Täter fahndet, bricht das öffentliche Leben rund um den Tatort in Erkraths kleinstem Stadtteil Unterfeldhaus fast komplett zusammen. Da man den Flüchtigen noch in der Umgebung vermutet, werden alle Ortszugänge abgeriegelt. Einzelhändler dürfen ihre Läden nicht verlassen, die Erzieherinnen der Kindergärten holen die spielenden Kinder herein. Bald sind die einzigen Menschen auf der Straße die Herren vom SEK, die mit der MP im Anschlag Stellung beziehen. Ein Anblick wie aus einem Fernsehkrimi, dazu häufen sich die Anrufe von besorgten Bekannten und Verwandten. Die Zeit scheint stillzustehen. Um 16 Uhr dann die große Erleichterung: In einer Pizzeria im 90 Kilometer entfernten Goch wurde ein Mann gefasst, der dort zuvor noch die beiden Töchter der Inhaberin verletzt hatte. Der Festgenommene gesteht auch die Taten in Düsseldorf und Erkrath. Eine Frage aber bleibt: Warum hat er das getan?
Hätte man die Taten verhindern können?
Nach und nach rollt die Polizei die Hintergründe des Amoklaufs auf. Yanquing T. soll 2011 seine ehemalige Chefin, die Inhaberin der Pizzeria, geschlagen haben. Bei dem anschließenden Gerichtsprozess wurde er zur Zahlung von Schmerzensgeld und einer Strafsumme verurteilt. T. fühlte sich von der Düsseldorfer Kanzlei nicht gut beraten, wollte sogar wegen Betrugs gegen die Anwältin klagen. Dafür wandte er sich an die Erkrather Kanzlei, wo er jedoch abgewiesen wurde. Nun folgte die Rache. Doch was muss sich im Kopf eines Menschen abspielen, damit er die Ermordung dreier Personen als legitim ansieht, weil er sich selbst ungerecht behandelt fühlte? Die Polizei geht davon aus, dass T. auch seine ehemalige Chefin getötet hätte, wenn er nicht zuvor von Passanten überwältigt worden wäre. Hätten auch die anderen Taten verhindert werden können? Anzeichen dafür gibt es. Denn obwohl der 48-Jährige als Vater zweier Kinder auf den ersten Blick nicht den „typischen Bösewicht“ abgibt, wurde er bereits in der Vergangenheit auffällig. Er hatte nicht nur seiner Chefin eine Ohrfeige verpasst, sondern auch einen Nachbarn mit einer Harke auf den Kopf geschlagen, weil dieser sich über laute Musik beschwert hatte. Wegen schwerer Körperverletzung wurde T. zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Zudem war er bereits im Vorfeld als schwieriger Mandant bekannt, der immer wieder für Unruhe sorgte; die Anwälte sprachen gar von „Telefonterror“. Doch hätte man im Vorfeld ahnen können, dass er soweit gehen würde?
Es bleibt die alte Frage: Kann man bei Menschen eine erhöhte Bereitschaft zu Gewalt voraussehen? Darüber gehen die Meinungen in der Wissenschaft weit auseinander. Manche denken, dass dies möglich ist. Eine Rolle sollen dabei aber nicht nur die Erfahrungen in Kindheit und Jugend spielen. Schließlich würden einige Menschen in einem problematischen Umfeld groß, doch nicht jeder werde deshalb zum Straftäter. Neben der sozialen Prägung solle auch die genetische Veranlagung über „gutes“ und „böses“ Verhalten entscheiden. Schon der deutschstämmige Psychologe Hans Eysenck war davon überzeugt, dass sich Persönlichkeitsmuster, die zu kriminellem Verhalten führen, vererben. Mittlerweile ist die Wissenschaft über diesen Standpunkt hinaus. Doch immer noch wird nach Möglichkeiten gesucht, um die Neigung zu Gewalt zu messen. So werden beispielsweise für Straftäter Risikoprofile erstellt, die über die Rückfallgefährdung entscheiden sollen. Dabei werden neben soziologischen Einflüssen zunehmend auch psychologische Faktoren wie etwa Persönlichkeitsstörungen, welche die Täter gleichgültig gegenüber anderen Menschen machen, berücksichtigt. Diese Risikoprofile betreffen jedoch nur Personen, die bereits aufgrund schwerer Straftaten in Haft saßen. Aber eine Gewalttat nur anhand von Indizien vorherzusagen, bevor sie passiert? Letztlich sieht man, wie ein Sprichwort sagt, den Menschen doch nur vor den Kopf und nicht hinein.
Es ist eben der kalte Schock des Unerwarteten, der mit einer Gewalttat einhergeht. Mit einer solchen Eskalation hat niemand gerechnet. Natürlich hat man auch zuvor schon von Amokläufen gehört. Doch diese Taten waren sowohl geografisch als auch emotional weit weg. Etwas vor der eigenen Haustür zu erleben, wovon man sonst nur in den Nachrichten erfährt, zerstört den inneren Frieden und nimmt das Gefühl der eigenen Unverwundbarkeit. Es macht Verwandte, Freunde und Bekannte zu Opfern, Zeugen oder Helfern. Zurück bleiben große Trauer und die Blumen vor der Tür.
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