Vielfach wird von einer toxischen Beziehung im Zusammenhang mit einem narzisstischen Partner gesprochen. Der Narzisst gilt dann oft als der Böse, der Andere als das Opfer. Aus psychologischer Sicht sind die Zusammenhänge deutlich komplizierter.
„Es ist nicht nur eine Person, die das Gift in die Beziehung bringt“, sagt Dr. Jakob Müller, der Psychoanalytiker und Psychotherapeut ist. Bei toxischen Paarbeziehungen handle es sich oft um eine sogenannte Kollusion.
Die narzisstische Kollusion
Den Begriff „narzisstische Kollusion“ hat Jürg Willi, ein Schweizer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der zudem Psychoanalytiker war, geprägt. Das Wort „Kollusion“ leitet sich vom lateinischen Verb „colludere“ ab, was in etwa „zusammenspielen“ bedeutet.
Die narzisstische Kollusion ist nicht die einzige Form, einer toxischen Zweierbeziehung, jedoch eine sehr häufige. Der Wunsch, sich gegenseitig zu ergänzen, steht auch hinter einer solchen Beziehung. Liebe soll Harmonie sein.
Der Narzisst
Dabei versucht der Narzisst, sich den Anderen dienlich zu machen. Das Gegenüber soll dem Narzissten Bestätigung geben. Danach dürstet er. Allerdings darf sich der Andere selbst nicht entfalten. Er soll sich nicht ändern, wird kleingehalten, damit der Narzisst weiterhin die Position des dominanten Starken innehat, von der er sich Bewunderung verspricht. Die Botschaft an den Partner ist: Ich möchte dein Ideal werden, für das du dich selbst aufgibst.
Wenn die Partnerin eines Narzissten zum Beispiel selbstständig wird, indem sie sich ein Hobby sucht, um sich in diesem frei zu entfalten, kommt es womöglich dazu, dass der narzisstische Partner das Hobby ebenfalls auszuüben beginnt, nur um seine Partnerin zu übertreffen, sie also weiterhin kleinzuhalten.
Der Komplementärnarzisst
Das Gegenstück zum Narzissten in der narzisstischen Kollusion ist der Komplementärnarzisst. Er ist eine unsichere, zurückhaltende, selbstzweiflerische Persönlichkeit. Dadurch fügt er sich passgenau in die dienende Position und wird vom Narzissten dominiert.
Den Komplementärnarzissten nur als Opfer zu sehen, vereinfacht viel zu sehr. Denn er sei auch narzisstisch strukturiert, so Jürg Willi. Der Komplementärnarzisst sucht eine ähnliche Erfüllung in der Beziehung. Er sieht den Narzissten als ideales Selbst und wünscht sich die eigene Vervollkommnung durch ein Einswerden mit ihm. Oft kommen Rettungsphantasien hinzu. Der Komplementärnarzisst will dem Narzissten zeigen, was wahre Liebe ist, hat den ebenfalls narzisstischen Wunsch, der zu sein, der zum Narzissten durchdringt, seine Gefühle erobert.
Da der Narzisst für den Komplementärnarzissten das passende Gegenstück ist, dessen Grandiosität man durch ihn zu erlangen versucht, wird der Narzisst ebenfalls zum bloßen Objekt. Er wird in die dominante Rolle gezwängt, die er nicht verlassen darf. Er kann als Narzisst womöglich keine Schwäche zeigen, darf es durch seine Rolle aber auch nicht.
Der Komplementärnarzisst schenkt dem Narzissten Anerkennung, doch mit der Berechnung, dadurch von seinem großartigen Idealbild zurückgeliebt zu werden. Der Narzisst aber ist dazu nicht fähig.
Gegenseitige Manipulation
Beide Partner manipulieren sich. Jeder versucht den Anderen zu benutzen. Der Schwächere kann dabei auch dominant werden. Beispielsweise kann eine Frau ihrem narzisstischen Partner mit der Trennung drohen.
Da der Narzisst den Pol seiner Bestätigung nicht verlieren will, fügt er sich in die unterwürfige Position, die auch der Komplementärnarzisst genießt. So macht der Narzisst womöglich Beteuerungen, sich zu ändern, fleht den Partner an, zu bleiben. Der Komplementärnarzisst verspürt dann das Gefühl, geliebt oder zumindest gebraucht zu werden.
Der Komplementärnarzisst verlässt die Beziehung deshalb nicht. Damit ist der Ausgangszustand wiederhergestellt. Die Dynamik beginnt von Neuem.
Warum die psychologische Betrachtungsweise wertvoll ist
Es ist wichtig die Dynamik der narzisstischen Kollusion zu verstehen. Für Außenstehende wird es nachvollziehbar, warum Fragen wie „Warum verlässt du ihn nicht einfach?“ den Kern des Problems verfehlen. Der Komplementärnarzisst muss einsehen, dass er Teil des Problems ist. Denn gerade dadurch ist er auch Teil der Lösung.
Sich aus toxischen Beziehungen zu befreien, ist oft nicht einfach. Eine Lösung dafür kann abschließend nicht gegeben werden. Sich Hilfe zu holen, dürfte aber nie falsch sein.
Quellen
Willi, J., Die Zweierbeziehung. Das unbewusste Zusammenspiel von Partnern als Kollusion, 2012.
Podcast: Rätsel des Unbewussten, Folge 62: Wohin die Liebe fällt – Psychoanalyse der Paarbeziehung, 2021.
Instagram-Account: Rätsel des Unbewussten, Reel vom 12. August 2024.
Schreibe einen Kommentar