Drei Monate lang hatte der Krieg in der Ukraine nun schon angehalten. Die anfängliche Panik war mittlerweile in eine neue Form des Alltags übergegangen, zumindest in den nicht direkt umkämpften oder besetzten Landesteilen. Doch auch die anfängliche Hoffnung, nach Ostern oder spätestens Anfang Mai sei alles vorbei, war enttäuscht worden. Für viele Familien, die größtenteils überstürzt ins Ausland geflohen waren, aber ihre Männer zurücklassen mussten, wurde die Frage nach einer Rückkehr, der Familie zuliebe, immer dringlicher, da ein schnelles Kriegsende nun doch nicht in Aussicht stand.
Mut zur Rückkehr in die Ukraine oder Sicherheit in Deutschland?
Auch mein Mann und ich waren nun schon drei Monate getrennt. Wir hatten schon mehrmals über eine Rückreise geredet, da Lviv doch kaum unter Angriff stand. Doch jedes Mal, wenn wir uns auf ein Datum festlegen wollten, schlug am gleichen Tag eine Rakete ein. Sollte uns das warnen, dass es eben noch zu gefährlich sei? Oder sollte es nur testen, ob uns trotzdem ein Familien-Wiedersehen wichtiger wäre? Oder war es vielleicht auch nur Zufall? Tausende Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, bis mir endlich ein guter Freund riet: „Warte nicht auf irgendwelche Zeichen. Wenn es für euch dran ist, dann fahrt. Ihr könnt ja auch jederzeit wieder ausreisen.“
Dieser eigentlich recht einfache Satz nahm mir die Angst vor einer „endgültigen“ Entscheidung und rückte alles in die richtige Perspektive. Wir entschieden uns, dass ich mit den Kindern zumindest für zwei Wochen zu Besuch nach Lviv fahren würde. Kurz darauf schrieb mir ein Freund, dass er ein Auto aus Deutschland überführen würde, in dem Platz für uns wäre. Schnell war ein Rucksack gepackt und los ging es. Die Vorfreude war groß, doch auch die Sorge, vor allem um meine Kinder. War es eine verantwortliche Entscheidung?
Überquerung der Grenze
Am Morgen kamen wir am polnisch-ukrainischen Grenzübergang an. Unser Freund brachte uns zum Fußgängerkontrollpunkt, da die Anmeldung seines Autos den ganzen Tag dauern sollte. Ich war schon öfters zu Fuß über die Grenze gegangen. Doch diesmal war es ganz anders. Wir liefen durch die Zeltstädte, die auf polnischer Seite aufgebaut waren, als erster Zufluchtsort für die Flüchtlinge. Ich hatte sie in den Nachrichten gesehen. Doch nun selbst hier durchzulaufen, mit einem Kind auf dem Arm, dem anderen an der Hand, überwältigte mich emotional sehr.
Viele Flüchtlinge hatte ich beim ersten Ankommen in Deutschland begleitet, und sie nun hier vor meinem inneren Auge zu sehen, verloren zwischen diesen Zelten, ängstlich, ungewiss, was kommt, teilweise traumatisiert – diese Vorstellung bewegte mich sehr. So früh am Morgen war kaum etwas los, und so gingen wir einfach weiter Richtung Grenze. Man läuft etwa zehn Minuten bis zum polnischen Grenzhäuschen. Dort werden die Pässe kontrolliert. Dann läuft man etwa nochmal so lang zur ukrainischen Kontrolle. Auf der anderen Seite drängten sich bereits die Leute zur Ausreise aus der Ukraine.
Gemischte Gefühle in der Ukraine
Sie schauten mich verwundert an, als ich mit meinen zwei Kleinen in die entgegengesetzte Richtung lief – zur Einreise in die Ukraine. Stacheldrahtzaun zwischen uns, Kameras und bewaffnete Polizisten rundherum. Ich war fast allein in diese Richtung unterwegs und sah verschiedene Gedanken in ihren Blicken: Unverständnis. Mitleid. Aber auch eine so große Sehnsucht, ihre Familien wieder vereint zu sehen. Und doch auch Angst, Panik, und daher die Entscheidung zur Flucht.
Als ich ins ukrainische Grenzhäuschen ging, konnte ich Bohdan schon am Ausgang hinter der Glastür sehen. Als der Grenzkontrolleur aufschaute, um mich mit meinem Passbild zu vergleichen, flossen schon die Tränen. Ein kurzes mitfühlendes und mitfreuendes verständnisvolles Lächeln huschte über sein sonst so regungsloses Beamtengesicht und ohne weitere Fragen gab er mir die Pässe zurück.
Da hatte auch unser Jüngster schon den Papa entdeckt und lief voller Vorfreude auf ihn zu. Dieser erste Moment des Wiedersehens brachte all die aufgestauten Gefühle und Ängste hoch – und ließ doch gleichzeitig alle Strapazen, Schmerzen und Sorgen verblassen. Ein kleiner Moment Ewigkeit, von dem ich so lange geträumt hatte und doch bis zuletzt nicht wusste, ob er jemals real werden würde.
Erik
Schön, dass bisher alles gut gegangen ist. Ihre Berichte sind immer sehr eindringlich geschrieben, liebe Frau Khalus. Hoffentlich hat dieser alltäglich gewordene Wahnsinn für Sie und die vielen Millionen Betroffenen bald ein Ende. Bleiben Sie gesund und hoffnungsvoll.