Nächstes Jahr stehen in unserem Land die nächsten Bundestagswahlen an. Von den 81 Mio. Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland dürfen rund 61,5 Mio. deutsche Staatsangehörige ihre künftige Volksvertretung auf Bundesebene wählen. Als Repräsentanten unserer Gesellschaft. Doch in einer Gesellschaft zu leben und sich gleichzeitig mit ihr zu identifizieren sind zwei verschiedene Aspekte.
9 Mio. Deutsche haben einen „Migrationshintergrund“. Als ich vier Jahr alt war, bin ich selbst mit meinen Eltern nach Deutschland eingewandert. Aufgrund dessen ist das aktuelle Politikverständnis der „Russischsprachigen“ bzw. Menschen mit post-sowjetischem Migrationshintergrund in Deutschland für mich besonders interessant. Diesem möchte ich mich vor allem mit Bezug auf die bevorstehende Wahl im Folgenden widmen.
Sind die russischsprachigen Einwanderer verdrossen? Ein paar Zahlen:
In Zeiten von Politikverdrossenheit, sinkender Wahlbeteiligung und des Populismus von Links und Rechts ergeben sich viele Fragen aber auch Lösungen. 3 Mio. Menschen aus den postsowjetischen Staaten wohnen in Deutschland. Die Zahlen sprechen für sich, die russische bzw. postsowjetische Diaspora ist ein Teil Deutschlands. Interessant ist es zu erforschen, ob ihr Hintergrund ihre Einstellung in Bezug auf die deutsche Politik beeinflusst.
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration publizierte Zahlen aus dem Jahr 2015, wonach 4,7 Prozent der Aussiedler die AfD bevorzugen. 45 Prozent unterstützten die CDU/ CSU, 26 Prozent die SPD. Selbst die bei Ex-Sowjetbürgern oft ungeliebte Linke sei für sie „wählbar“ geworden. Zwei Jahre später, zur Bundestagswahl 2017, hat eine Forschungsgruppe der Universitäten Köln und Duisburg-Essen neue Zahlen zum Wahlverhalten von Deutschen mit russischem bzw. postsowjetischem Migrationshintergrund veröffentlicht.
Die AfD war bei 15 Prozent der Beteiligten die Wahl. Die CDU/CSU hat jedoch weiterhin mit 27 Prozent die relative Mehrheit der Gruppe hinter sich. Die Linke ist bei 21% der russischsprachigen Bevölkerung beliebt.
Man stellt fest, dass die Randparteien einen stärkeren Zuwachs erleben und die Volksparteien, auch bei dieser Bevölkerungsgruppe, an Zuspruch verlieren. Konkrete Zahlen über die Höhe der Wahlbeteiligung der Russischsprachigen liegen leider nicht vor. 76,2 Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund sind 2017 wählen gegangen, allerdings nur 61 Prozent der Deutschen mit Migrationshintergrund.
Russischsprachige Einwanderer und die deutschen Parteien
Es lässt sich leider feststellen, dass fast keine Partei einen Deutschen mit russischen bzw. post-sowjetischen Migrationshintergrund im Bundestag stellt. Lediglich die CDU/CSU Fraktion stellt einen russlanddeutschen Abgeordneten. Russlanddeutsche gelten eher als CDU nah, oft auch aus Gründen der Dankbarkeit an Helmut Kohl für die Möglichkeit der Rückkehr nach Deutschland. Auch die konservative sowjetische Erziehung dieser Menschen spielt eine Rolle. Zudem gibt es ein „Netzwerk für Aussiedler“ bei der CDU.
Ich selbst habe als Wahlhelfer bei der Wahl des Oberbürgermeisters der Stadt Köln erlebt, dass mich eine ältere russische Frau fragte, wen sie wählen solle. Ich finde toll, dass sie wählen gegangen ist, aber hier zeigt sich gleichzeitig das Problem: Viele Menschen sind politisch kaum informiert. Wir müssen bei der Integration den Einwanderern unser politisches System intensiver näherbringen
Rechtspopulismus als Anlaufstelle auch für russischsprachige Einwanderer?
Nach dem Aufschwung der AfD bei den Landtagswahlen und in den Umfragen hat sich auch dort ein Netzwerk für Russlanddeutsche gebildet. Jedoch wird bei den AfDlern immer wieder die deutschstämmige Herkunft der Russlanddeutschen betont, woraus man entnehmen kann, dass die beiden anderen Gruppen der Russischsprachigen (jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehem. Sowjetunion und ethnische Russen) hier nicht einbezogen werden. Allerdings versucht die AfD mittlerweile, mit der im Jahr 2018 neu gegründeten Gruppe „Juden in der AfD“, auch die jüdischen Kontingentflüchtlinge für sich zu gewinnen.
Dennoch kann diese relativ kleine Vereinigung es schwierig haben Stimmen und Mitglieder für die AfD zu gewinnen, da die Kontingentflüchtlinge politisch etwas linker sind, was durch die mehrheitlich großstädtische Herkunft begründet werden kann. Zudem sorgen die antisemitischen Schlagzeilen aus der AfD, z.B. im Fall Gereon, für eine Distanzierung der jüdischen Kontingentflüchtlingen von der AfD. Bei anderen Parteien ergab sich während meiner Recherche keine weiteren parteiinternen Netzwerke oder Gruppen.
Wurden die russischsprachigen Einwanderer von der Politik vergessen?
Die AfD schafft es, im Rahmen der Flüchtlingskrise, viele Stimmen der Russlanddeutschen auf sich zu ziehen. Meiner Meinung nach liegt es an den eigenen Erlebnissen dieser Menschen während der damaligen Zuwanderung nach Deutschland. Bei einigen Russischsprachigen regt sich das Gefühl, dass Flüchtlinge leichter nach Deutschland gekommen sind als sie selbst. Dies ist eine Streitfrage.
Das subjektive Empfinden kann daher rühren, dass Russlanddeutsche damals ein aufwendiges Verfahren der Einreisebeantragung durchlaufen mussten, bevor sie die Sowjetunion überhaupt verlassen durften. Die Flüchtlinge kamen ohne jegliche Einreiseerlaubnis und haben sich erst auf deutschem Boden bei den Behörden gemeldet. Dass sie eine bereits schreckliche Zeit in ihrer Heimat erlebt und sich daraufhin auf einen gefährlichen Fluchtweg in eine komplett ungewissen Zukunft gemacht haben, geht bei manchen in dem persönlichen Empfinden unter.
Im Vergleich zu den Schicksalen der Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien muss ich dennoch sagen, dass unsere Situation, die der Aussiedler bzw. Flüchtlinge aus der Sowjetunion, in keinem Verhältnis dazu steht. Wir mussten keine gefährlichen Fluchtrouten passieren und standen nicht in unmittelbarer Lebensgefahr. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass meine Familie nie langfristig in einem Heim gelebt hat, wir nach ein paar Wochen eine Wohnung bekommen haben und ich sofort zur Schule und meine Eltern arbeiten gehen durften.
Arbeit als Grundlage für gelungene Integration und ein sorgenfreies Leben
Doch hier genau besteht das nächste Problem, die Anerkennung der Abschlüsse. Russische Hochschulabschlüsse wurden hier selten anerkannt. Es gibt Menschen, die Glück hatten. Dies lag jedoch an dem Alter, dem Studiengang und dem Studienort. Wenn ein gewisses Alter erreicht worden ist, gab es keine gleichwertige Weiterbildung und die Menschen bekamen Jobs unter ihrer Qualifikation. Deswegen gingen manche gar nicht zur Arbeit oder haben nur Teilzeit Jobs angenommen. Meine Eltern gingen in die Selbstständigkeit, was bei Einwanderern sehr beliebt ist.
Doch der Unmut bei vielen ist geblieben und leicht entsteht neuer Neid entsteht, wenn heutzutage von ausländischen Fachkräften die Rede ist. Wenn die Medien und die Politik von ausländischen „Fachkräften“ reden, erwecket es den Eindruck, heutzutage stünden viel mehr Chancen am offenen Arbeitsmarkt zur Verfügung. So schwer die Situation damals für viele postsowjetische Einwanderer gewesen ist, es zeigt auch, dass aus den vorherigen Fehlern gelernt wurde und die Politik sich nun mehr dafür einsetzt, den Menschen einen zukunftssicheren Neuanfang zu ermöglichen und die demographische Entwicklung sowie den Fachkräftemangel zu meistern.
Fühlen sich die russischsprachigen Menschen in Deutschland verloren?
Ich sehe einige Probleme, die dazu geführt haben, dass sich russische Einwanderer von der deutschen Politik, welche letztendlich auch sie selbst betrifft, distanzieren: So sehe ich die bis 2007 erlaubte doppelte Staatsangehörigkeit für Russlanddeutsche und anderen russischen Einwanderern als problematisch. Der russische Pass bindet diese immer noch an Russland. Die Loyalität zum deutschen Staat schwindet. Die Russen sehen sich weiter als Russen, obwohl es das Grundgesetz anders sieht. Einige sehen den deutschen Pass als gutes Papier für Geschäftsreisen und visafreies Privatreisen. Doch es ist nicht Sinn der Sache in meinen Augen mit solchen Argumenten den deutschen Pass zu besitzen. Der deutsche Pass sorgt für eine Integration in die deutsche Gesellschaft und Politik.
Problematisch sehe ich hier auch die Deutschen, welche trotz des deutschen Passes die Einwanderer nicht als Teil des Landes sehen wollen. Für mich ist es sehr schwierig zu verstehen, dass deutsche Staatsbürger, die zwar nicht in Deutschland geboren sind, aber schon lange hier leben, die Sprache gut beherrschen und hier arbeiten oft noch als ein „Ausländer“ oder „Passdeutscher“ abgestempelt werden. Auch ich habe so etwas schon gehört, was mich sehr verärgert.
Manchmal wird man auch als „guter“ oder „integrierter Ausländer“ bezeichnet. Das ist eine der Ursachen, warum sich russischsprachige Einwanderer nicht mit der deutschen Gesellschaft und Politik identifizieren wollen. In Russland werden diese Menschen jedoch oft als Deutsche gesehen und nicht als Russen, was sie am Ende de facto heimatlos macht und spaltet. Die russische Regierung hat genauso wie die türkische Regierung das Problem bereits erkannt und versucht die Auswanderer für sich zurückzugewinnen. Sie versucht ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer alten Heimat zu vermitteln, was die Identifizierung mit Deutschland gefährdet
Das Fazit:
Die deutschen Parteien sollten auch im Hinblick auf die kommende Bundestagswahl mit entsprechenden Themen in den Dialog mit den Einwanderern treten und diese überzeugen unser Land selbst mitzugestalten. Denn in meinen Augen haben sie interessante Ideen und Vorstellungen. Ich sehe besonders bei den jüngeren Generationen unter 60 Potential. Diese sind überwiegend demokratisch anstatt autokratisch gesinnt.
Sie kennen die Vorzüge der deutschen Demokratie, die große Sicherheit und Freiheit in unserem Land gewährleistet. Diese Werte gilt es zu verteidigen und zu schützen. Indem wir die Aufmerksamkeit auf alle Bürgerinnen und Bürger, darunter auch auf die russischsprachigen Mitbürgerinnen und Mitbürger lenken, kann dies gelingen.
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