Meine Freundin Annalie und ich besuchten für einen Kurztrip unsere arabischen Freunde in Nazareth. Die Reise entpuppte sich als ein Abstecher in ein anderes Universum – ein Universum, das voller Kontraste und widerstreitenden Emotionen steckt. Wir schlenderten durch eine verlassene Altstadt, rumpelten über ramponierte Straßen, besuchten lebendige christliche Gemeinschaften und gerieten in einen gewalttätigen Konflikt – all das in nur 48 Stunden. Nazareth und ihre Bewohner haben uns fasziniert und nachdenklich nach Hause nach Jerusalem reisen lassen.
Blinde Wut von 0 auf 100 in drei Sekunden
„Das sieht hübsch aus, lass uns hier einen Kaffee trinken!“ waren meine Freundin Annalie und ich uns einig, als wir in der sonst sehr verlassenen Altstadt Nazareths an einem liebevoll gestalteten Café vorbeischlenderten. Die Tische im Außenbereich waren voll besetzt, doch genau als wir eintraten, wurde ein Zweiertisch frei. Ein junger Mann verließ das Café und trat beim Vorbeigehen gegen den Mülleimer im Eingang. Annalie und ich dachten uns nichts weiter dabei und wollten uns den Innenbereich noch anschauen. Und dann brach draußen das Chaos aus. Gott sei Dank, sind wir rechtzeitig in das Café eingetreten.
Plötzlich wurden im Außenbereich Stimmen laut, bis sich gut zehn junge Männer gegenseitig auf Arabisch anschrien. Dazwischen versuchten die junge Café-Besitzerin und ihre Mutter, die Streithähne auseinanderzuhalten, was die Männer kaum beeindruckte. Als einer anfing, einen Holzstuhl auf sein Gegenüber zu werfen, der dann krachend auf dem Boden zerbarst, war es vorbei mit meinem inneren Frieden. Ein anderer griff nach einem Stuhl mit Metallbeinen und ich betete zu Gott, dass der Stuhl bleiben möge, wo er war. Die Mutter erschien wieder im Bild mit klaffender Wunde am Kopf und blutüberströmtem T-Shirt. Im Café saßen einige andere junge Frauen, die alle geschockt waren und selbst nicht verstanden, was hier vor sich ging.

Meine Freundin und ich warteten ab, bis die wütenden Stimmen etwas entfernter klangen und verließen gemeinsam mit zwei anderen Café-Besucherinnen fluchtartig diesen Ort. Wir retteten uns in ein anderes nahegelegenes Café, in dem wir am Tag zuvor schon gewesen waren. Zu unserer Überraschung traten kurz darauf zwei Freundinnen aus Nazareth, Tia und Mai,[1] ebenfalls ein und setzten sich zu uns. Sie waren besorgt und wollten wissen, was los war. Die Polizei war eingeschaltet worden und hatte kurz auch in dieses Café geschaut. Tia war sichtlich besorgt und fragte Mai wiederholt, ob es hier denn sicher sei. Mai war der Meinung, dass uns in diesem Café nichts passieren würde. Der Inhaber war in der Stadt bekannt und allseits respektiert.
[1] Wegen der sensiblen politischen Lage in der Stadt Nazareth und im Land Israel habe ich alle Namen meiner lokalen Freunde, die in diesem Artikel vorkommen, geändert.
Nazareth – ein Haufen ernster Probleme
Dieser Zwischenfall war fortan natürlich Thema Nummer 1, als wir uns später am Tag mit unseren Freunden trafen. Uns wurde wieder und wieder beteuert, dass solche Zwischenfälle nicht normal seien und wir Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Gleichzeitig wurden damit auf ein Neues die zahlreichen schwerwiegenden Probleme angesprochen, mit denen Nazareth zurzeit konfrontiert ist: Korruption, fehlende Sicherheit, organisierte Kriminalität, Verfall wegen ausbleibender notwendiger Instandhaltung und Investitionen, Aussterben der historischen Altstadt.

Bereits als wir mit dem Bus in Nazareth einfuhren, konnten wir direkt erkennen, dass mit der Stadt einiges im Argen liegt. Die Straßen waren in einem unglaublich schlechten Zustand und an den Rändern türmte sich der Müll auf. Unser Freund Elias (Name geändert), der uns von der Bushaltestelle abholte, erklärte im Auto, dass auch dieses Stadtbild – die Türme von Müll – nicht normal sei. Momentan sei ein Bürgermeister im Amt, der wegen Misswirtschaft und Korruption kein Geld für die grundlegenden Aufgaben der Stadtverwaltung, in diesem Falle die Müllabfuhr, bezahlte. Die Müllunternehmen hätten über Monate ohne Bezahlung weitergearbeitet, würden sich aber seit gut einem halben Jahr im Streik befinden, worunter die gesamte Stadt litt. Als an dem einen Abend plötzlich ein Müllwagen in der Siedlung der befreundeten Familie auftauchte, war die Freude groß und auch das wurde aufgeregt weitererzählt.

Nazareth – verschwendetes Potenzial
Elias ist ein großartiger Gastgeber, der uns häufig mit dem Auto von einem Ort zum anderen gebracht und dabei die Lage in seiner Heimatstadt erläutert hat. Es war unmissverständlich klar, wie er und seine Freunde an ihrer Stadt hängen und wie sehr es ihn schmerzt, dass dieser Ort heruntergewirtschaftet und vernachlässigt wird. „Nazareth könnte nach Jerusalem der touristisch größte Ort Israels sein,“ schwärmte er uns vor. “Diese Stadt hat ein riesiges Potenzial, das nicht im Ansatz genutzt wird!“ Auf die Frage, ob er sich denn vorstellen könne, in die Politik zu gehen, um seine Stadt aufleben zu lassen, kam die Antwort: „Sehr gerne, aber dann würde ich erschossen werden.“ Alle Freunde, die mit am Tisch saßen und dem Gespräch lauschten, waren sich einig, dass es zu gefährlich sei, hier in die Politik zu gehen.

Nazareth – Gewalt ist an der Tagesordnung
Laut den Erzählungen dieser Freundesgruppe, die allesamt in Nazareth aufgewachsen sind und selbst als junge Erwachsene an fast jedem freien Wochenende zurückkommen, um bei ihrer Familie zu sein und ihre lokale Gemeinde zu besuchen, wird Nazareth wie auch die meisten anderen überwiegend arabischen Orte in Israel von Mafia-Familien gebeutelt. In vielen Gesprächen mit unterschiedlichen Menschen kam auf, dass bewaffnete Clan-Familien die Stadt im Griff hätten, die von Ladenbesitzern Schutzgeld forderten und sie andernfalls bedrohten. Diese Realität wird auch von allen meinen jüdischen Freunden, mit denen ich darüber sprach, bestätigt.
Gezielte Morde, bei denen durchaus auch Unbeteiligte getroffen werden, seien keine Seltenheit. Aus der Erfahrung der lokalen Bevölkerung würde die Polizei kaum eingreifen, sondern die Clans gewähren lassen. Interpretiert wird das in der Weise, dass die israelische Regierung kein Interesse an der Sicherheit arabischer Gemeinschaften habe. Im Gegenteil, es läge in ihrem Sinne, dass auch von außen sichtbar ist, wie heruntergekommen diese Orte sind. Wachstum soll verhindert werden.
Im Gespräch mit jüdischen Freunden, denen ich diese Eindrücke und Perspektive schilderte, wurde wiederum darauf aufmerksam gemacht, dass solche Clan-Strukturen sehr komplex seien und nicht innerhalb weniger Jahre aufgelöst werden könnten. Darüber hinaus bedürfe es für einen solchen Vorgang der Kooperation mit den lokalen Behörden und der Bevölkerung und diese ist nicht leicht aufzubauen. Wie in allen Themen, die mit den Konflikten in und um Israel in Zusammenhang stehen, ist auch diese Situation vielschichtig und nicht leicht zu durchdringen. Einfache und schnelle Antworten sind illusorisch und in manchen Kontexten geradezu gefährlich.

Nazareth Illit schließt nahtlos an Nazareth an und bietet absolutes Kontrast-Programm. Es handelt sich dabei um die überwiegend jüdische Nachbarstadt, die einen jüdischen Bürgermeister hat und in der es keine Müll- oder Clan-Probleme gibt. Dort ziehen auch wohlhabendere Araber hin, um den Missständen Nazareths zu entkommen und gleichzeitig mit ihrer Heimat und Community verbunden zu bleiben.
Nazareth – eine Stadt der Kontraste
Irgendwo dazwischen befindet sich die kleine christliche Gemeinde, in der die meisten unserer Freunde aufgewachsen sind und die sie noch immer regelmäßig besuchen. Annalie und ich durften beim Gottesdienst und auch bei der Jugendgruppe dabei sein und wurden trotz Sprachbarriere herzlich aufgenommen. Jedes einzelne arabische Wort, das ich identifizieren konnte, fühlte sich wie ein kleiner persönlicher Triumph an.
Nach dem Gottesdienst wurden wir zur Geburtstagsfeier einer jungen Erwachsenen eingeladen, wodurch der Kontrast im Alltag dieser Menschen erneut demonstriert wurde. Diese Familie führt einen hohen Lebensstandard und besitzt ein wunderschönes Haus. Die Straße, an die es gebaut ist, spiegelt diese Umstände in keiner Weise wider. Auch wenn wir mit dem Bus durch Nazareth gefahren sind, konnten wir zahlreiche eindrucksvolle Stadtvillen bestaunen und entdeckten wir teure Autos im Straßenverkehr. Doch selbst wenn man die Müllberge außen vor lässt, wird die Infrastruktur – löchriger Asphalt, schmale Fahrbahnen, verstopfender Verkehr, schmutzige Fußgängerwege – diesem Standard bei Weitem nicht gerecht.

Nazareth – eine Schönheit, die sich nicht unterkriegen lässt
Unsere Freunde kümmerten sich sehr gut um uns, führten uns zu kulinarischen Höhepunkten und spazierten mit uns durch die Altstadt. Familienbande und christliche Gemeinden bilden das tragende Fundament in ihren Beziehungen. So kannte man Café- und Restaurant-Besitzer, Werkstatt und Fischverkäufer.
Die Schönheit der Stadt fanden wir in Gestalt von Menschen, die in Familien und Freundschaften zusammenhalten, in Gastfreundschaft und im Genuss der überaus leckeren lokalen Küche. Auch entdeckten wir Schönheit darin, wie sehr unsere Freunde an ihrer Heimatstadt hängen und über deren Zustand trauern, aber von dem Potenzial Nazareths überzeugt sind und im Angesicht der Umstände dennoch nicht aufgeben.








Nazareth: Where Dream and Reality Drift Apart
Danke liebe Norina, für diesen interessanten Einblick aus Nazareth.
Liebe Grüße von Liane Brandt (zur Zeit mit Beate Maier in Jerusalem)
Und wohne ebenfalls wie Deine Eltern in der Prignitz in Heiligengrabe