Der Rückzug ins vertraute Private, das Aufleben von Familientradition und häuslicher Erfüllung – zwar aktuell aus Schutz und Solidarität – erinnert an frühere Zeiten, als die harmonische Kernfamilie zum guten Ton gehörte. Doch was macht die Corona-Krise mit ihr und damit verbunden mit unserer Gesellschaft? Wer gewinnt und wer verliert?

Der ein oder andere mag sie bereits für überholt oder „vom Aussterben bedroht“ gesehen haben, doch jetzt blüht sie wieder auf – die Kernfamilie. Traditionell besteht sie aus zwei Generationen: zwei verschiedengeschlechtliche Ehepartner mit ihren gemeinsamen Kindern. Doch seit deren Hochphase in den 50er- und 60er-Jahren hat sich viel an unseren Lebensstilen getan. Vor allem sind sie diverser geworden. Das Verständnis, und damit auch der Wunsch, von Familie als dem harmonischen und idealen Rückzugsort, ist nicht mehr so eindeutig, wie noch vor ein paar Jahrzehnten.
Laut Statistischem Bundesamt lebten 2018 insgesamt 41,4 Millionen private Haushalten in Deutschland. Bei 34 % davon handelte es sich jedoch um Zweierkonstellationen und somit meist nicht um Familienverbünde, deren Zahl immer weiter zurück geht. Im Vergleich zu 1991 ist die Anzahl der Einpersonenhaushalte um 46 % gewachsen. 2040 soll, der Prognose zufolge, jeder Vierte in Deutschland alleine wohnen.
Die Krise krempelt Lebensmodelle um, ob wir wollen oder nicht
Abseits der Statistik fühlt sich es sich aber dieser Tage anders an. Die Kernfamilie scheint beinahe ein „Comeback“ zu erleben, auch sprichwörtlich, denn viele Menschen zieht es zurück in ihren Familienkreis und die vertraute Umgebung. Zu diesen Nestkriechern gehöre ich selbst, sonne ich mich doch gerade im Garten meiner Eltern und lasse die Gedanken freiziehen. Hier befinden sich die für mich einzigen Menschen, denen ich weniger als anderthalb Metern nahekommen darf. So schnell zieht es mich nicht in mein Einzimmerappartement zurück. Stattdessen habe ich bereits Marmelade gekocht, ein Frühjahrsbeet angelegt, Vorhänge gewaschen, den Keller aufgeräumt, Fotoalben gebastelt. Was man eben so macht, wenn die einzige Beschäftigung im Elternhaus und mit dessen Bewohnenden stattfindet – beinahe erfüllend.
Ich weiß, das möchte ich an dieser Stelle klarstellen, meine Sicht auf die Dinge ist beschränkt. Für mich sind diese häuslichen Tätigkeiten erfüllend, weil sie meine Zeit füllen. Die ist gerade mein größtes Problem; meine Situation ist weder existenz- noch gesundheitsbedrohend. Personen in dieser Lage haben denkbar anderes im Kopf, als sich über den Haushalt und die Familie als romantisierte Zuflucht auszutauschen.
Zurück zu allen, deren Familienmodell normalerweise nicht das der Kernfamilie ist: Alleinerziehende, Patch-Work-Familien, Regenbogenfamilien, WGs, oder prinzipiell Menschen, die auf nicht-biologische Vertraute angewiesen sind. Jetzt sitzt man schnell allein zuhause – oder plötzlich reduziert auf die Kernfamilie. Jeder Betroffene, der die aktuelle Krise in diesen heimischen Kreisen meistert, kennt den waghalsigen Schlittergang am Rande einer neuen Familien-Krise. Lagerkoller gab es schon vor Corona, aber Home-Office oder Home-Schooling belasten die derzeitige Situation neuartig, egal in welchem Beziehungsmodell.
Doch was macht das zusammengenommen, wenn es plötzlich so viele zurück in ihre Familien zieht? Wir Zuflucht und Erfüllung im Haushalt und Garten finden? Die Grenzen des Privaten erstarken? Was macht es mit unserer Gemeinschaft, wenn die eigene Gesellschaft nur aus den Familienmitgliedern besteht?

Inmitten der Ablenkung durch Brettspiele und Fotoalben vergisst man schnell den prüfenden Blick dorthin, wo es nicht so rosig aussieht
Über den Gartenzaun tausche ich Empfehlungen zu Brettspiel-Abenden aus. Ich, die bis vor Kurzem noch die Werte Selbstbestimmung und Freiheit anspornten. Weder mein Alltag noch Anspruch sehen gewöhnlich so aus, aber jetzt in solcher Unsicherheit pfeife ich darauf. Lieber suche ich das, was früher emotionale Stabilität und Geborgenheit gab. Wie schön war es doch damals, als die Welt noch in Ordnung, so ein blödes Virus für die kindliche Vorstellung zu abstrakt und schnell wieder vergessen war.
Auf einmal ist da die Sehnsucht nach einem behüteten Zuhause, alle harmonisch und füreinander da – und plötzlich steckt man mitten in der Gedankenschleife der Kernfamilie. Genau hier aber liegt das Problem. Wir ziehen uns in die angenehme Blase unseres trauten Heims zurück, umgeben von denjenigen, mit denen wir sowieso in einem Boot sitzen. Es ist zu verführerisch, nur an sich und seine eigenen vier Wände zu denken. Die eigenen Probleme erscheinen schon groß genug, da ist das Frühjahrsbeet eine wohltuende Ablenkung. Die großen Gewinner des Verlustes von sozialen Kontakten sind die Haustiere. Man streitet sich nicht mehr, wer mit dem Hund raus muss, sondern wer darf. Aber wer verliert?
Umgekehrt markieren die Grenzen des Grundstücks auch die des Bewusstseins. Schlimmes geschieht dort, was vom Radar des häuslichen Glückes fällt. Die, die nicht vorübergehend eine Kernfamilie etablieren können, alleine leben, finden keine häusliche Erfüllung und familiäre Geborgenheit. Zeitgleich aber auch weniger Austausch außerhalb. Erst recht unsichtbar bleibt so, was sich schon zuvor hinter verschlossenen Türen abspielte, aber durch die jetzt erstarkenden Hausmauern noch weiter in den Hintergrund rückt. Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung verzeichnete ein chinesisches Frauenhaus eine Verdreifachung der Hilfeanrufe im Zusammenhang mit der akuten Lage. Für Opfer ist es schwerer, häuslicher Gewalt zu entkommen. Aber schauen die anderen auch weniger hin, weil das eigene Häusliche sie vereinnahmt?
Behalten wir auch zu Hause alle im Blick
Gerade in Zeiten, in denen jeder sein eigenes Süppchen kocht, wenn auch nach Tradition des Hauses, ist es umso wichtiger, über den Tellerrand hinauszuschauen. Klar, daran ist nichts auszusetzen, eine intakte Kernfamilie bietet Geborgenheit und irgendwo kindliches Vertrauen in „Alles wird gut“, was aktuell ein wichtiger Satz zu sein scheint.
Doch so wächst eine Kluft zwischen denjenigen, die darauf zurückgreifen können und denjenigen, die diese Möglichkeit nicht haben, aber trotzdem Unterstützung und Zusammenhalt brauchen. Was da womöglich hilft, ist, unsere eigene Schicksalsgemeinschaft nicht auf die Personen zu beschränken, die uns am Herzen liegen, weil wir ihnen so nahekommen dürfen.
Räumliche Isolation darf nicht unsere Köpfe beschränken. Auch über die vier Wände hinaus müssen wir zusammenleben. Was da sicher hilft, ist, sich zu erkundigen, anzurufen, über den Gartenzaun nachzufragen, oder, wie damals in den 50er- und 60er-Jahren, Post zu verschicken. Zeit haben wir genug.
Worte die verzaubern. Einfach klasse der Kommentar! Ein großes Lob an die Autorin.