Eine unserer Autorinnen lebt und arbeitet zur Zeit in Großbritannien. Genauer gesagt im Süden Englands in der Grafschaft Hampshire. Hier schildert sie ihre Eindrücke der vergangenen Stunden.

Rückblick: 23. Juni 2016, Tag des Referendums
Seit 7:00 Uhr Ortszeit sind die Wahllokale geöffnet. Der heutige Donnerstag wird als historischer Tag in die Geschichte Großbritanniens und Europas eingehen. Noch nie zuvor hat ein Land durch eine Volksabstimmung die EU verlassen. Was genau passiert, wenn Großbritannien leave wählt, weiß niemand. Auch auf der Arbeit gibt es heute nur ein Thema: das Referendum. Ich arbeite in einer Schule für lernbehinderte Kinder und ein großer Teil meiner Kollegen ist unter 40 Jahre. Außerdem arbeiten viele Migranten hier, multikulti wird hier regelrecht gelebt. Das spiegelt sich auch in der Meinung zum Referendum wieder. Viele junge Kollegen haben sich für ein klares remain ausgesprochen.
“Ich bin in einem England aufgewachsen, das Mitglied in der EU ist. Ich habe die Zeit davor nicht miterlebt und fühle mich wohl in einem Land, das Mitglied der EU ist. Warum sollte man etwas reparieren, das nicht kaputt ist.” Chloe, 20 Jahre
Ich hoffe einfach, dass das Ergebnis morgen doch noch ein Gewinn für remain ist. Es ist definitiv ein Battle zwischen den Generationen. Ältere Menschen wollen das “Good old Britain”zurück. Leider vergessen die meisten, dass die Dinge damals nicht besser waren als heute.” Jake, 26 Jahre
Großbritannien scheint zwischen den Generationen gespalten zu sein. Viele junge Menschen fühlen sich außerdem unfair behandelt. Die Mehrheit der jungen Generation ist für einen Verbleib in der EU. Sie sind diejenigen, die am längsten mit der Entscheidung leben müssen. Und dieser Volksentscheid wird die Zukunft des Landes auf sehr lange Zeit bestimmen.
Andere Kollegen waren auch heute noch unentschlossen, wie sie wählen sollen. Eine Kollegin erzählte mir, dass sie es beinahe vergessen hätte und froh sei, dass ich sie daran erinnert habe. Was sie wählt, wisse sie noch nicht. So richtig verfolgt habe sie die ganze Sache auch nicht. Ihr Ehemann wäre für leave aber “der arbeitet auch im Bauwesen. Der hat seine eigenen Gründe. Eigentlich wäre es doch auch spannend zu sehen, was passiert, wenn Großbritannien die EU verlässt”, entgegnet sie mir mit einem halbherzigen Lächeln.
So eine Einstellung macht mich wütend. Ich habe das ungute Gefühl, dass die Entscheidung über Verbleib und Austritt gerade in der Hand der Menschen liegt, die halbherzig und unwissend eine Entscheidung aus dem Bauch heraus treffen. Das erinnert mich an eine Begegnung von vor zwei Wochen in einem Pub: Dort habe ich mich mit einem auf die 70 zugehenden Mann über das Referendum unterhalten. Er sagte mir geradeaus, dass er für leave sei. Auf meine Frage nach dem Warum erzählte er mir Halbwahrheiten über die Situation in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. In keinem Satz der gefühlten eintausend antwortete er auf meine Frage. Großbritannien sei stärker allein, aber die deutschen Autos zum Beispiel seien schon gut, vergewisserte er mir.
Gerade der Süden Englands ist relativ konservativ geprägt, was nicht zuletzt daran liegt, dass in den ländlichen Gebieten doch mehr ältere Menschen wohnen. Eine Hochburg der leave-Champagne hier in der Region ist das kleine Christchurch, das zwischen Bournemouth und Southampton liegt. Hier wohnen vor allem ältere, wohlhabende Menschen. In fast jedem Vorgarten ist ein rotes Schild mit der Aufschrift “Vote Leave” aufgestellt. Schilder mit “Vote Remain” sieht man sowieso nicht, aber vor allem nicht in Christchurch. Die Anhänger der remain-Champagne trugen blaue Aufkleber mit “I’m in”.
24. Juni 2016, der Tag danach
Gegen 5.30 Ortszeit zeichnet sich ein Gewinn für die leave-Champagne ab, circa 30 der 382 Wahlkreise müssen noch ausgezählt werden. The Guardian sagt, dass 72% der noch zu wertenden Stimmen für remain sein müssten, um noch einen Verbleib zu erzielen. “Fuck”, denke ich mir.
Später beim Frühstück läuft ausnahemsweise der Fernseher. BBC ist eingeschaltet und ich verfolge das Geschehen nur nebenbei, so richtig kann ich es immer noch nicht glauben. Später tritt Cameron vor die Kamera. Er ist ein Brexit-Gegner und macht erneut deutlich, dass seiner Meinung nach Großbritannien besser, stärker und sicherer in der EU ist. Trotzdem habe Großbritannien eine Entscheidung getroffen, die man respektieren müsse. Weiterhin kündigt er seinen Rücktritt für Oktober an, damit eine neue Regierung das Land zu seinem nächsten Ziel führen könne. Kurz darauf kommt diese Meldung auch im Radio. Nach den Nachrichten spielt der Radiosender “Can’t stand losing you” von Sting and the Police. Ach, der britische Humor.

Im Internet wurden heute die Stimmen der Brexit-Gegner laut. Auf Facebook schreibt jemand: “Ich schäme mich britisch zu sein.” Viele bringen ihre Enttäuschung online zum Ausdruck. Auffällig ist,dass kaum jemand über den Ausgang jubelt oder einen erfreuten Post veröffentlicht. Es scheint fast so, als würde sich im Nachhinein niemand, der leave gewählt hat, trauen, das auch offen zuzugeben. Zu groß scheint die Unsicherheit über die weiteren Geschehnisse zu sein. Der Pfund ist schon in den Keller abgerutscht, was wird als nächstes passieren? Es scheint, als wolle sich niemand dafür verantwortlich machen.

Für einen weiteren Aufreger sorgte heute Morgen Nigel Farage, der Vorsitzende der Ukip, mit seinem Auftritt bei “Good Morning Britain”. Eines der Kernagrumente der Brexit-Befürworter war, dass Großbritannien wöchentlich 350 Millionen Pfund nach Brüssel sende. Stattdessen könne man doch das Geld besser dem NHS, dem staatlichen Gesundheitswesen, zukommen lassen. In der Sendung gab Farage zu, dass er das so nie gesagt hätte und es folglich auch nicht versprechen kann. Das beunruhigt viele Briten, schließlich war dies für viele leave-Wähler einer der Gründe für den Brexit zu stimmen.
Das Land ist gespalten. In der Bevölkerung gibt es diejenigen, die fassungslos und enttäuscht sind, die die es noch nicht so richtig glauben können. Und dann sind da diejenigen, die relativ leise ihren Sieg feiern und doch erkennen lassen, dass sie beunruhigt sind. Denn schließlich weiß niemand genau, wie es jetzt weitergeht. Nur eines steht fest: Großbritannien ist heute ein anderes Land als gestern.
Guter Artikel!
Einzig den Absatz, dass nur wenige Leave-Voter sich äußern kann ich aus meiner Sicht nicht teilen… In den sozialen Medien sehe ich zu Hauf auch Freude über den Brexit…
Hallo Katharina, Dein Jahr in GB neigt sich ja bald dem Ende. Aus Deinen Kommentaren habe ich entnommen, dass Du sehr viel an Erfahrung und Informationen gewonnen hast. Gratulation! Der Brexit treibt mich also auch um, zumal ich ein “Nachkriegskind” bin und mit dem Gedanken erwachsen wurde, dass die EU (damals EWG) der erste Schritt war, der uns vor Krieg und Elend bewahrt hat. Dieses Gefühl und dieser Gedanke ich leider heute nicht mehr spürbar. Die EU ist nicht nur eine Handelsunion, sondern es erzeugt auch und vor allem das Gefühl, dass wir Europäer sind. Es tut mir unendlich leid, dass das Ergebnis so ausgefallen ist. Was die jungen Leute angeht, muss ich leider sagen, sie hätten sich vielleicht im Vorfeld mehr mit der Sache beschäftigen sollen und ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen sollen. Nun, ist es wie es ist und ich hoffe, dass das UK die Kurve kriegt und dennoch in der EU einen akzeptablen Platz findet. Darüber hinaus hoffe ich, dass das ewige “Gequengel” über Europa endlich aufhört, denn auch die “Insel” ist ein großer Teil von Europa. Kopfschmerzen bereitet mir allerdings, dass Deutschland nun in eine noch stärkere Rolle gedrängt wird und somit wieder vorneweg läuft. Schade, schade das Ganze.
Sicher beendest Du Deinen Aufenthalt mit ein Feier, viel Spaß, komm gut wieder nach Hause ins kleine beschauliche Ahrweiler.
Bis dahin liebe Grüße und maach et jood
Brigitte
Habe mir den Arktikel, jetzt da der tatsächliche Austritt aus der EU immer näher kommt nochmal durchgelesen. Und musste vor allem über die Aussagen im zweiten Video in zweiten Teil, als Farage die remain befürworter beruhigt, schmunzeln aber auch stark den Kopf schütteln.
Das meiste wird genau so kommen, wie es Kritiker schon 2016 vorausgesagt haben und das macht mich traurig.
In den Jahren die inzwischen Verstrichen sind, ist mir auch die Idee des Referendums als total absurd vorgekommen, Politiker werden dafür bezahlt das Land zu führen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Eine solche Entscheidung, wie über den verbleib in der EU, welche sehr Weitreichende Konequenzen hat, in die Hand von Bürgern zu geben, die von der Materie keine ahnung haben (weil sie diese Ahnung auch nicht haben müssen), ist in meinen Augen traurig.
Was in der Regierung in London momentan passiert ist einfach nur noch ein Kindergarten und auch wenn ich die hoffnung shon aufgegeben haben, so hoffe ich doch noch auf eine vernünftige Lösung.