Jenny hat zwei große Probleme. Sie kann nicht hören und sie kann nicht sprechen. Jenny ist taubstumm. Das bedeutet in der ghanaischen Volta-Region, dass ihr Leben nichts für sie bereit hält. Das weiß Jenny und das weiß auch ihre Mutter Patience, die beide Tag für Tag der unvermeindlichen Isolation der Tochter zuschauten. Bis Hilfe aus Deutschland kam. Hilfe, mit dem Glauben an die junge Frau – und einer Nähmaschine.
In dem kleinen Dorf im Osten Ghanas ist der Strom ausgefallen. Schon wieder. Niemand weiß, wie lange diesmal. Jenny Tordzro kann es egal sein. Überhaupt sieht sie heute alles sehr viel positiver als noch vor zwei Jahren. Besonders, wenn sie an ihrer alten Nähmaschine mit dem Fußantrieb sitzt. Dann braucht sie den Strom nicht. Nur etwas Garn und bunten Stoff.
Taubstumm und ausgegrenzt
Jenny ist nicht wie jedes andere Mädchen, denn sie ist taubstumm. Ein echtes Problem in Ghana, denn sie ist anders als die meisten. Das reicht, um sie auszustoßen. Niemand wollte ihr etwas beibringen, Gebärdensprache spricht keiner. Unterhalten kann sie sich nur mit ihrer Familie in einer Zeichensprache, die teilweise erlernt, teilweise selbst beigebracht ist. Ihre Mutter Patience sagt heute, dass sie keine Hoffnung für Jenny gesehen hat: „Ich dachte, wir wären verloren mit diesem Kind“. So dachte sie auch, als Sonja Liggett-Igelmund mit dem deutschen Hilfs-Verein „Meeting Bismarck“ nach Ghana kam. Die Kölner Hebamme konnte vor drei Jahren für ein Doku-Projekt des WDR nach Ghana reisen und hilft seitdem, wo sie kann. Aus der anfänglichen, technischen Ausrüstung der Hebammenstation in der Volta-Region ist mittlerweile eine großangelegte Hilfsaktion geworden. Schulen wurden neu möbliert und Trinkwassertanks bezahlt. Liggett-Igelmund hat so Menschen inspiriert, ihren Teil beizutragen. Menschen wie Ulrike Bodinka. Auch die Kölnerin wollte helfen – und Liggett-Igelmund nahm die Hilfe dankend an. Ulrike Bodinkas Idee: die Taubstumme Jenny soll Nähen lernen, um wieder am Leben teilzunehmen. Stofftiere wollte sie eigentlich mit Jenny nähen. Doch bei der Arbeit an der Maschine kam alles ganz anders. Aus Stofftieren wurden Umhängetaschen.
Erschöpft vor lauter Aufmerksamkeit
Und dabei ist es geblieben. Wobei die Zusammenarbeit der beiden Frauen denkbar schwierig begann. Nach einem ersten euphorischen Versuch an der Nähmaschine, die die Deutschen in einem Übersee-Container mitgebracht hatten, lag Jenny tags darauf krank und erschöpft im Bett. Es war einfach zu viel. So viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewöhnt, vermutet Bodinka heute. Doch sie war hartnäckig. Einen weiteren Tag später setzte sie sich wieder mit Jenny an die Maschine. So fand das Mädchen mehr und mehr den Spaß an ihrer Aufgabe. Zuweilen übertrieb sie es sogar. Sie nähte von fünf Uhr morgens bis in den Abend. Pausen gab es nur, wenn kein Stoff mehr da war, den sie verarbeiten konnte. Einen geregelten Tagesablauf musste Jenny erst erlernen. Ulrike Bodinka half ihr dabei. Bis acht Uhr morgens geht es jetzt an die Hausarbeit, danach wird vormittags genäht. Erst nach dem Mittagessen geht es in die zweite Runde, bis am Abend noch einmal Hausarbeit ansteht. Am Wochenende ist Pause angesagt. Ein immer noch straffes Programm, das Jenny nun aber Struktur gibt. Ulrike Bodinka ist es im Nachhinein fast peinlich, so eingegriffen zu haben, schließlich sei Jenny ja auch schon eine junge Frau und kein Kind mehr. Doch Jenny nahm die Vorschläge dankend an. Und besitzt jetzt ihr eigenes kleines Mode-Label, ganz ohne Erschöpfungszustände.
Chance zunächst verkannt
Diesen Erfolg konnte Mutter Patience zunächst nicht im Ansatz absehen. Sie war froh, dass da jemand war, der mit der behinderten Tochter spielte. Dass dies der Anfang eines neuen Lebens sein sollte, das erfuhr sie erst später, als sie begriff, was das Nähen für Jenny bedeutete: ihre Tochter hatte ihren eigenen Online-Shop. Bunte Wendetaschen „handmade by Jenny“. Auch die Mutter konnte ihr Glück kaum fassen. Das in Deutschland gefertigte Etikett zeigt Jenny nun voller Stolz. Unablässig näht sie eine Tasche nach der anderen. Sie stoppt nur, um die folgende Aussage zu “betonen”, natürlich in ihrer Gebärdensprache: Einen Finger richtet sie auf die Tasche in ihrer linken Hand, dann zieht sie an ihrem Kragen, als würde sie ihr T-Shirt ausziehen wollen. Danach beschreibt Jenny mit ihrem Zeigefinger eine 100 auf der Innenseite ihres linken Ellenbogens. Ein breites Grinsen huscht über ihr Gesicht. Was sie sagen will: „Eine hundertprozentige Wende in meinem Leben“.
Früher war sie alleine zu Hause und fühlte sich ausgegrenzt. Jetzt verdient sie ihr eigenes Geld, kann auch mal mit einer Freundin raus ins nächste Dorf. Mit dem bekümmerten Mädchen von damals hat Jenny heute nicht mehr viel zu tun. Damit sich Jenny nicht so anstrengen muss, hat Ulrike Bodinka ihr zu Weihnachten eine neue Nähmaschine geschenkt, eine elektrische. Die steht mittlerweile aber in Have, dem kleinen Ort, in dem ihre Mutter arbeitet. Denn im Dorf der Beiden, das etwa eine Motorradstunde und einige Kilometer durch ungangbares Gelände entfernt liegt, nützt sie ihr oft nichts. Dafür fällt zu oft der Strom aus und bleibt dann für Tage weg. Dann kommt die alte Maschine mit dem Fußantrieb zum Einsatz, ein Arbeitsgerät, wie man es in Deutschland eher im Schaufenster eines Antiquitätenladens vermuten würde. Für die bunten, gusseisernen Verzierungen hat Jenny aber kein Auge: „Die Maschine muss nähen“, sagt sie dann in ihrer Zeichensprache.
Mit dem Handwerk kam der Lebensmut
Jenny hat es geschafft. Ihre Augen leuchten, wenn sie an der alten Maschine sitzt und sie die Nähte fein zusammen führt. Ihren Kopf hebt sie dabei nur ab und zu für einen kurzen Blick aus dem Fenster. Dort kann sie sich heute wieder hinaus wagen, wenn ihr danach ist. Dann nimmt sie ihre Schwester und geht spazieren, besorgt sich etwas zu essen von ihrem eigenen Geld. Ganz alltägliche Dinge eben, für Jenny waren sie aber unerreichbar. Jetzt ist Jenny Designerin und nicht mehr nur das Mädchen, mit dem niemand sprechen mag
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