Manchmal sind es nur wenige Worte, ein kleines Zitat, ein Gedicht oder ein Aphorismus, die uns unbegrenzte Gedankenwelten eröffnen. Kleine Impulse lassen unsere Gedanken fliegen. Also Starthilfe gefällig?! Dann weiterlesen!
„Wir sehen, dass in dem Maße als in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.“ (Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater)
Hast du schon mal Germanys Next Topmodel gesehen? Falls du weiblich bist, alles klar, geschenkt. Falls du dich aber dem männlichen Spektrum des Menschengeschlechts zuordnest, „habe ich heute ein Foto für dich“. Germanys Next Topmodel ist eine Castingshow im sogenannten „Reality-TV-Format“, die junge Frauen aus ganz Deutschland auf den Laufsteg bringt, um dann nach einem recht melodramatischen K.O.-System das angeblich neue Topmodel Deutschlands zu küren. Mehr müssen wir für den Moment nicht wissen. wie völlig unberührte „Mädchen“ in ihrer zarten, natürlichen Schönheit über den (ProSieben-)Laufsteg stöckeln, so sehen wir hier das letzte Mal unreflektiertes und bloßes „Gehen“. Gehen kann auch recht komplex sein und über das Stolzieren zum Schreiten werden, aber dazu später mehr.
Die Frauen, die sich ab der zweiten Show dann zu „Heidis Mädels“ zählen dürfen, werden von „Experten“ in der hohen Kunst des Catwalks geschult. „Catwalk“ trifft es von der Idee her schon sehr gut. Der Gang soll anmutig sein, graziös wie der einer Katze. Diesem Ideal kommen viele der Mädels vor allem in der ersten Show schon recht nah. Doch der plötzliche Bruch lässt nicht lange auf sich warten. Falls ich mir das Urteil erlauben darf, wirken die Mädels mit dem ersten Erlernen von Regeln, wie Füße aufgesetzt werden müssen, Hüften geschwungen und Lippen in Szene gesetzt werden sollen, plötzlich gar nicht mehr graziös. Geradezu ein wenig gestelzt. „Wo ist ihre Natürlichkeit plötzlich hin?“, fragt sich der kritische Zuschauer.
Aber vielleicht kennst du ähnliche Phänomene aus deinem Leben. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du dich bewegst oder sprichst wie ein Star? Und dann solltest du es beweisen, aber plötzlich war es vollkommen weg? Als ich noch Tennis spielte, sagte mir mal jemand, dass ich beim Aufschlagen eine Bewegung wie die ehemalige Tennisgröße Andy Roddick machte. Gut, dass es nur ein Training war, denn ab diesem Zeitpunkt verschlug ich jeden Aufschlag. Es war wie verhext und von Andy Roddick war nichts mehr zu sehen.
Andere Frage: Wie setzt du Kommas? Setzt du sie nach Gefühl oder hast du irgendwann alle Regeln auswendig gelernt? Wahrscheinlich ging es dir mit den Regeln ähnlich wie mir. Ich habe sie mal gelernt und dann wurde erstmal alles schlimmer. Ich war vollkommen verunsichert und setzte am liebsten gar keine Kommata mehr. Aber ich konnte auch nicht mehr zurück. Auch das bloße Gefühl, mit dem ich meistens richtig lag, war verschwunden. Beim Lernen von Fremdsprachen verspüre ich ebenso viel zu oft das Unbehagen, mich mit jeder neuen Grammatikregel im Alltagsgespräch schwerer zu tun, dass die Sätze nicht mehr so flüssig sind und ich viel zu stark über Endungen und Artikel nachdenke.
Reflexion vermindert – meine Beispiele zeigen es – immer zunächst die Grazie oder das gedankenlose, simple „Können“. Die größte Gefahr besteht darin, an diesem Punkt aufzuhören und sich mit der ganz minderwertigen Ausübung des Geschicks zufrieden zu geben. Die Grazie kehrt erst wieder, wenn die Erkenntnis durch ein Unendliches gegangen ist. Erst wenn der Geist gar nicht mehr gebraucht wird, kann er auch nicht mehr irren. So müssen die Topmodels ihren Catwalk irgendwann ganz vorreflexiv wie auf einer Linie durchführen können, der Schüler die expliziten Regeln der Grammatik fast vergessen und ich meine Bälle irgendwann habituell aufschlagen. Erst dann wird antrainierte Technik endlich zu perfektionierter Natur. Die Bewegung brennt sich für alle Zeiten in den Körper ein, die Fremdsprache wird zur zweiten Muttersprache und der Catwalk wird zum Spaziergang. Das Bewusstsein richtet zunächst Unordnung in der natürlichen Grazie des Menschen an und nur mit unendlichem Bemühen wird uns nach einem Lauf um die gesamte Welt die Hintertür zum Paradies geöffnet, um nun die Früchte der Erkenntnisse in ihrer vollen Süße genießen zu können.
Tim Huyeng
Kleiner Zusatz des Autors…
Das Erkennen einer solchen verkappten Ziererei folgt übrigens den gleichen Mechanismen. Damit ist der Prozess auf sich selbst anzuwenden. Beispiele dazu sind Juroren, die Tanz, Klavierspieler oder auch Models beurteilen.
Theodor Rubrecht
Sehr guter Beitrag! Ein Bestätigung aus meinem eigenen Alltag in der Musik: Auch hier funktionieren die Stücke (insbesondere Etüden) erst dann,wenn man keinen Gedanken mehr an Figuren, Harmonien und Spieltechnik verschwenden muss. Selbst wenn man ein Stück beinahe Perfektioniert hat – wird man auf ein unschönes Spiel oder eben auf ein perfektes Spiel hingewiesen, ist es für die nächsten Anläufe beinahe zwecklos…