Als klar wurde, dass im Dezember 2015 die Urheberrechte für Hitlers „Mein Kampf“ ablaufen würden, begann man in Deutschland über den Umgang mit dem „letzten Relikt der Nazizeit“ zu diskutieren. Die lit.Cologne ist zwar bekannt dafür dass sie auch um gesellschaftskritische und unkonventionelle Themen keinen Bogen macht, aber mit dieser Besprechung bricht sie ein Tabu.
Gespannt schaut das Publikum im Kölner Schauspiel auf das, was Bettina Böttinger gerade aus ihrem Umschlag zieht. Zwei Buchbände kommen zum Vorschein, es handelt sich um die kommentierte Neuausgabe von „Mein Kampf“, die das Institut für Zeitgeschichte kürzlich herausgebracht hat. Hitlers Erbe – Biographie, kranke Ideologie, oder gar Literatur? Welche Zugänge zu dem Stoff können geschaffen werden? Auf diese Fragen will WDR-Journalistin Bettina Böttinger gemeinsam mit ihren Gästen Antworten finden: Historiker Christian Hartmann vom Institut für Zeitgeschichte nähert sich dem Thema wissenschaftlich, die beiden Theaterschauspieler der Gruppe „Rimini Protokoll“ künstlerisch und der Buchrestaurator der Weimarer Anna Amalia Bibliothek sieht sich irgendwo dazwischen.
Herausforderung Hitler
Gleich zu Beginn verweist Bettina Böttinger auf die Gestaltung der Bucheinbände. „Wir wollten es so schlicht wie möglich halten, ich erinnere mich an eine Ausgabe aus den Siebzigern in dunkelrotem Einband und Goldrand – so etwas wäre für uns undenkbar“, sagt Hartmann. Heute sind wir also soweit, dass wir uns mit dem Inhalt distanzierter und reflektierter auseinandersetzen können. Aber die Konfrontation mit dem Tabubruch kann auch anders verlaufen: Das zeigt „Rimini Protokoll“ in ihrer Inszenierung von „Hitler – mein Kampf“. Auf einer Leinwand werden Videomitschnitte des Stückes abgespielt, darin zeigen gewöhnliche Menschen als Laiendarsteller ihren persönlichen Zugang zu dem Stoff. Da ist die junge Juristin, die sich mit der Rechtslage zu der Veröffentlichung von „Mein Kampf” beschäftigt, oder der Buchrestaurator, der eine alte Originalausgabe durch das Publikum reicht und dabei Gefahr läuft, Verfassungsbruch zu begehen. Dabei stellt sich die Frage: Kann man ein so hochsensibles Thema mit Humor angehen, oder ist Humor gar die beste Möglichkeit dem Mythos die Anziehungskraft zu nehmen? Historiker Hartmann übt Kritik, Sachlichkeit sei für ihn das wichtigste, man müsse den Inhalt entlarven und Hintergründe erläutern, um den Stoff überhaupt zugänglich zu machen; so wie er und seine Historikerkollegen es in der kritischen Edition mit 3.700 Anmerkungen gezeigt haben.
Eine Stimme für Hitler
Auf der Bühne im Schauspiel „Depot 1“ ist an diesem Abend neben den Sesseln in der Runde etwas weiter am Rand auch ein Rednerpult aufgebaut. Dahinter sitzt stumm Fernsehschauspieler Sylvester Groth und wartet auf seinen Auftritt. Er übernimmt den Part der eigentlichen Lesung, und inszeniert zwei von Hartmann ausgewählte Passagen aus „Mein Kampf“. Die Atmosphäre ist merkwürdig angespannt, Groth kommt dem Pathos Hitlers unheimlich nahe – auch ohne österreichischen Akzent und wildem Gestikulieren. Er liest ruhig und überlegt, und wenn er manchmal die Stimme hebt, zuckt das Publikum kurz zusammen. Es handelt sich um den Ausschnitt, in dem Hitler beschreibt, wie er aus dem Lazarett heraus das Ende des Ersten Weltkriegs und den Übergang von Kaiser-Deutschland in die Demokratie erlebt.
Hitler sells…
Aber der freie Verkauf von Hitlers Ideologieniederschrift birgt auch Risiken, ist Zündstoff für rechtes Gedankengut. Auch vor der Freigabe habe man die Originalausgabe im Internet oder im Ausland jederzeit erwerben können, wenden sowohl der Historiker als auch die Schauspieler ein. Auch dass die Neuausgabe in der ersten Auflage schon nach kurzer Zeit vergriffen war, zeige die hohe Nachfrage nach dem Verbotenen. „In unserer Gesellschaft gibt es nur noch wenige Tabus“, sagt Hartmann, daher sei der Run auf eines der letzten auch so groß. „Hitler sells!“ Immerhin kostet die kommentierte Ausgabe rund sechzig Euro, und ist fast 2.000 Seiten stark. Dass unsere Gesellschaft immer tabuloser wird, haben auch die Landtagswahlen vom vergangenen Sonntag gezeigt, auf die Böttinger im Anschluss verweist. Trotzdem könne man dem Druck von Rechts am besten mit Aufklärung und Offenlegung entgegenwirken, da ist sich die Runde einig.
Stimmen im Kopf
Rimini Protokoll stellt sich in ihrem Stück eine besondere Frage: Wie klingt „Mein Kampf“ in den Ohren der Menschen? Mithilfe eines einfachen Synthesizers hat sich die Gruppe eine besondere Methode überlegt, der Stimme im Ohr des Lesers Ausdruck zu verleihen. Die Juristin zum Beispiel vergleicht ihr Gefühl mit dem Geräusch von quietschen Nägeln an der Schultafel. Ein anderer hat sofort die Stimme von Adolf Hitler im Kopf. Als Sylvester Groth den zweiten vorbereiteten Teil aus „Mein Kampf“ vorträgt, wird er lauter, aggressiver im Ton und ähnelt Hitler umso mehr in Pathos und Rage. Im Publikum stellt sich Erschrecken und Betroffenheit ein, es geht um die Lebensraumerweiterung im Osten und den “Lebenskampf“.
Groth ist auch der eigentliche Herr des Abends, denn er macht neben dem sachlichem Gespräch um Legitimation und Annäherung vor allem eines: betroffen. Und vielleicht ist ein emotionaler Zugang zu der Thematik tatsächlich der beste, denn Distanz und Aufgeklärtheit scheinen auch nach 70 Jahren immer noch nicht überall in unserer Gesellschaft vorhanden zu sein. Daher ist es nur richtig und notwendig, das traurige Relikt nicht weiter zu stilisieren und seine Anziehung durch Illegalität zu verstärken. Die Ausschnitte aus der Interpretation der Theatergruppe wirken im Gegensatz zu der künstlerischen Leseleistung eher unprofessionell und fast improvisiert. Schauspielerisch an „Mein Kampf“ heranzutreten ist sicherlich eine Herausforderung, aber die Ideen scheinen doch noch nicht ganz ausgereift.
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