Jana Crämer wurde 1982 geboren, ist Managerin der Band Luxuslärm und leidet an der Essstörung „Binge Eating“. 2015 veröffentlichte sie den Roman „Das Mädchen aus der 1. Reihe“, in dem sie ihre eigene Geschichte erzählt. Zusammen mit David Müller (Künstlername: Batomae), Bassist von Luxuslärm, gibt sie Konzertlesungen. Im Interview mit Lea Ochßner erzählt sie nicht nur, wie sie selbst den Mut findet in der Öffentlichkeit aufzutreten, sondern auch, wie sie anderen helfen will, den ersten Schritt in die richtige Richtung zu gehen.

Frau Crämer, wann haben Sie entschieden, Ihre Geschichte niederzuschreiben?
Das war auf Tour. Wir waren mit einem Nightliner unterwegs, in dem man oben schläft und unten mit den anderen zusammensitzen kann. Damals habe ich an die 160 Kilogramm gewogen. Da im Sitzbereich nicht viel Platz ist und man dicht an dicht gedrängt ist, fühlte ich mich einfach nicht wohl. Ich hab mich dann zurückgezogen und oben ins Bett gelegt, während meine Leute unten gefeiert haben. Dort dachte ich mir: „Wow, unten passiert gerade die größte Party und du schließt dich hier selbst aus. Du frisst dich zu Tode und isolierst dich komplett.“ Und da habe ich angefangen, mir meinen Frust von der Seele zu schreiben. Ich hatte nie den Plan, ein Buch zu schreiben. Ich musste einfach meine Gefühle und Gedanken loswerden. Man sagt ja: „Wenn man sich Sachen von der Seele schreibt, dann geht es einem besser.“ Und das stimmt.
Auf der Bühne stehen Sie zusammen mit David Müller, Bassist von Luxuslärm, der jetzt auch solo unter dem Namen Batomae unterwegs ist. Wie wurden Sie beste Freunde?
David kennt mich natürlich durch die gemeinsame Zeit bei Luxuslärm sehr gut und wir haben uns immer mehr angefreundet. Die dunkle Seite, das mit dem Essen, habe ich aber am Anfang nicht angesprochen. Er hat natürlich gesehen, dass irgendetwas nicht stimmt. In der Öffentlichkeit habe ich immer nur Salat gegessen, aber natürlich kommen 160 Kilo nicht davon, dass man Salat isst. Ihm war das immer egal. Er hat mich nie für mein Aussehen verurteilt, er hat sich nie geschämt, wenn wir auf einer schicken Veranstaltung waren, dass ich nicht eine von den schlanken, schönen Schickimicki-Mädels war, sondern er stand zu mir und war immer an meiner Seite. Ich habe bei ihm das Gefühl, dass ich mich wirklich nicht verstecken muss. Wir sind beste Freunde. Ich habe zu niemandem mehr Vertrauen. Aber ich wusste auch nicht so recht, wie es für ihn ist, wenn ich mein ganzes Leben vor ihm ausbreite. Ich habe mich dann getraut, ihm mein Manuskript zu geben und habe gesagt: „Schau mal, hier. Das ist mein Leben.“
Wie wurde aus dem Manuskript eine Konzertlesung?
David hat das Buch während der Tour gelesen. Je mehr er von mir wusste, desto mehr Fragen hatte er, auch unbequeme. Dadurch ist eine intensive Zusammenarbeit und Vertrautheit entstanden. Er wollte mein Problem wirklich verstehen und hat dann auch gesagt: „Du musst das Buch veröffentlichen. Das ist so bedingungslos ehrlich, das wird auch anderen Menschen helfen.“ Das Buch ist als Musikroman angelegt und am Ende der Geschichte hat ein Titelsong gefehlt. Und da ich weiß, dass David wunderschöne Lieder schreibt, habe ich mir gewünscht, dass er einen Song für mein Buch schreiben könnte. Das hat er auch getan, aber nur unter folgender Bedingung: „Jana, wir machen einen Deal. Ich weiß, dass du Angst davor hast, auf eine Bühne zu gehen, aber ich wünsche mir, dass du das machst. Du bekommst alle Songs für deinen Soundtrack, wenn du mit mir auf Lesereise gehst.“ Da habe ich große Augen gemacht und gedacht: „Oh Gott! Für mich eine absolute Horrorvorstellung.“ Jetzt sind wir seit 2015 immer wieder mit unserer Konzertlesung unterwegs und das ist echt Wahnsinn, wie toll sich das entwickelt hat und wie viel Feedback wir bekommen.
Woher nehmen Sie den Mut, so persönlich zu werden, so offen mit dem Thema umzugehen?
Durch David. Wirklich durch ihn. Ich alleine würde mich nicht irgendwo hinstellen und so sehr zu mir stehen. Aber dadurch, dass er bedingungslos zu mir steht, lerne ich immer mehr, auch mir selbst Dinge alleine zuzutrauen. Neulich hatte ich den ersten TV-Auftritt alleine, das wäre vorher nie denkbar gewesen. Aber mit jeder Lesung, mit jedem Interview, glaube ich daran, dass es gut ist. Das ich mir ein bisschen mehr zutrauen kann. Das war wie so ein Befreiungsschlag, als wir das gemacht haben. Und jetzt fühlt sich ganz viel schon ganz anders an. Vor der ganzen Sache hatte ich wahnsinnige Angst vor einer Therapie. Jetzt warte ich einfach nur noch auf den freien Therapieplatz, weil ich unheimlich Bock darauf habe. Mein Leben hat sich komplett geändert und meine Einstellung zu mir selbst ist gerade dabei, sich zu ändern. Weil David einfach nicht locker lässt.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass dieses Thema Schülern zugängig gemacht wird?
Unheimlich wichtig. Wir werden immer mehr von Lehrern angesprochen, die sagen, dass sie keinen Zugang zum Thema Essstörungen finden, und uns bitten, vorbeizukommen. Deswegen ist es ganz toll, wenn wir dann an den Schulen sehen, wie die Kids anfangen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Unterstützt werden wir durch unseren Partner „Bauchgefühl“. Bei denen auf der Seite findet man Infos, was es für Essstörungen gibt und wo man Hilfe bekommt. Wir lassen die Kids also am Ende der Lesung nicht mit dem Gefühl zurück, „wir haben jetzt Redebedarf, aber ihr seid morgen wieder weg“. Ich bin nicht diejenige, die Lösungen hat. Ich bin die, die einen besten Freund hat, die mittlerweile dazu steht, ein Problem zu haben. Aber ich weiß, dass es nichts bringt sich damit alleine auseinanderzusetzen. Man muss darüber sprechen und man darf sich nicht dafür schämen, dass man ein Problem hat. Ich glaube, dass jede Sucht einen großen Feind hat und das ist die Freundschaft. Jeder, der so einen Menschen an seiner Seite hat, kann sich glücklich schätzen. Deswegen wünsche ich mir, dass die Kids auf ihre besten Freunde ganz besonders Acht geben und diese Freundschaften pflegen. Weil es nichts Wichtigeres gibt.
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