Die Sterbehilfedebatte wird durch das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts wieder neu entfacht. Die Grundsatzfrage lautet: Soll der moderne, selbstbestimmte Mensch auch selbstbestimmt sterben dürfen? Oder ist eine würdevolle Sterbekultur die bessere Alternative? Für letztere stehen Hospize, stationäre Pflegeeinrichtungen für Sterbenskranke. In einer solchen Palliative-Care-Einrichtung habe ich während meines Studiums ein Praktikum gemacht und dabei unvergessliche Einblicke in die wertvolle Arbeit der Sterbebegleitung erhalten, die mein Denken über Leben und Tod geprägt haben [erstveröffentlicht am 19.06.2019].
„Gerne noch ein bisschen mehr Sahne“, erbittet die ältere Dame mit einem verschmitzten Lächeln. Ihr Mann lächelt ebenfalls, während ich einen Klecks frisch geschlagener Sahne auf ihrer Waffel drapiere. Die Stimmung ist entspannt und ausgelassen. Und doch schießt es mir in den Kopf: Es könnte ihre letzte Waffel sein. Die Dame ist nämlich Bewohnerin des Hospizes, in dem ich während meines Theologiestudiums ein vierwöchiges Praktikum absolviert habe. Dazu gehörte für mich auch die Mitarbeit im Trauercafé, bei dem Bewohner und Angehörige einmal in der Woche zu Waffeln mit Kaffee, Kirschen und Sahne eingeladen wurden. In diesen Augenblicken spielt der Tod nicht die Hauptrolle. Es wird gegessen und gelacht.
Dennoch fließen hin und wieder auch Tränen. Bei Bewohnern, bei Angehörigen. Es gehört zur Würde des Menschen, schwach sein zu dürfen – das ist einer der vielen Eindrücke, die ich von damals mitgenommen habe. Es geht um ebenjene Würde, die unser inzwischen 70-jähriges Grundgesetz für unantastbar erklärt. Unsere Verfassung garantiert außerdem das Recht auf Leben, das damit eng zusammenhängt. Würde und Lebensrecht des Menschen ganz an den Beginn des Grundgesetzes zu stellen war eine Reaktion auf die massenhaften und grausamen Verletzungen ebendieser während des Nazi-Regimes. Dazu gehörte auch die „Euthanasie“; das ist altgriechisch und bedeutet „angenehmer Tod“. Diesen vermeintlich angenehmen Tod haben die Nationalsozialisten allem aus ihrer Sicht „unwertem Leben“ gebracht. Es waren systematische Krankenmorde.
Die medialen, politischen und parlamentarischen Debatten rund um das Thema „Sterbehilfe“ sowie das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezeugen aber, dass „Euthanasie“ keineswegs ein Thema der Vergangenheit ist. „Es ist erschreckend zu sehen, wie sehr die Tabuisierung der Sterbehilfe, die nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten jahrzehntelang Konsens war, in den aktuellen Debatten fällt“, so der Befund des Kölner Erzbischofs Rainer Kardinal Woelki. In nicht wenigen Ländern Europas wurde die Praxis der Sterbehilfe bereits in jeweils unterschiedlichem Ausmaß legalisiert. Sie wird dort wie hier emanzipatorisch und mit der Selbstbestimmung des mündigen Menschen begründet. Nicht wenige sagen auch, die Sterbehilfe für Alte und Sterbenskranke sei ein Akt der Barmherzigkeit.
Suizid als Akt der Verzweiflung am Leiden
Völlig zu recht ist Selbstbestimmung in einer modernen, freiheitlichen Gesellschaft wie der unseren als ein hoher Wert anerkannt. Wer selbstbestimmt leben will, will auch selbstbestimmt sterben, so die gängige und vordergründig plausible Schlussfolgerung. Doch ist es im Kontext der Frage nach aktiver Sterbehilfe überhaupt angemessen, von Selbstbestimmung sprechen? In etwa 90 Prozent der Fälle ist ein Suizid die Folge einer schweren psychischen Erkrankung, meist einer Depression. Dahinter steckt also fast immer eine Leidensgeschichte, die den Suizid nicht als einen Akt freier Selbstbestimmung, sondern als verzweifelten, vermeintlich einzigen und letzten Ausweg für den Betroffenen erscheinen lässt.
Verstärkt wird dieses Leiden zudem durch die Erfahrung von Stigmatisierung als einer „zweiten Krankheit“. Davon betroffen sind körperliche Behinderungen und Leiden, aber auch den häufig tabuisierten, relativ „unsichtbaren“ psychischen Erkrankungen wird noch immer viel zu häufig mit Vorurteilen und Diskriminierungen begegnet. Betroffene werden zu „Stigma-Opfern“, auch indem sie die Vorurteile auf sich selbst beziehen. Die Chancen zur Heilung der eigentlichen Krankheit werden durch das Stigma beeinträchtigt. Und als wäre das nicht schon genug, kann zudem eine „moralische Stigmatisierung“ hinzutreten. Eine solche liegt vor, wenn etwa Menschen mit Schizophrenie oder einer Persönlichkeitsstörung als unberechenbar und boshaft abgestempelt werden, oder wenn depressive Menschen unter Generalverdacht gestellt werden, wie beispielsweise nach der Germanwings-Katastrophe. Eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe kann solche Stigmatisierung noch weiter begünstigen. Betroffene müssten sich dann rechtfertigen, warum sie sich selbst und ihrem Umfeld noch so zur Last fallen und ihrem Leben nicht lieber „selbstbestimmt“ ein baldiges Ende setzen. Daher ist dieser Weg eine gefährliche Grenzüberschreitung und hat Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Vorstellungen von Menschenbild und Menschenwürde, von Krankheit und Lebensqualität, von Solidarität und Empathie. „Hier droht vielen Menschen statt der verheißenen Selbstbestimmung eine wachsende Fremdbestimmung am Lebensende“, kommentiert das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) das aktuelle Verfassungsgerichtsurteil treffend.
Hospize stehen für eine würdevolle Sterbekultur
Meine Zeit als Praktikant im Hospiz hat mir gezeigt: Sterbebegleitung ist barmherziger als Sterbehilfe. Es geht auch bei denjenigen, die sich wünschen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, um deren Würde. Ihnen zu zeigen, dass man sie mehr liebt, als sie sich gerade selbst lieben können, ist in solch einem Fall ein Werk der Barmherzigkeit. Und klar, angesichts des Leidens von Sterbenskranken ist es nicht immer einfach, ihnen dies zu vermitteln. Angesichts der Leidensgeschichten, die ich mitbekommen habe, kann ich es verstehen, dass manche den Tod herbeisehnen. Ich habe aber auch miterlebt, wie ein Hospiz diesen Menschen alledem zum Trotz einen Ort der Lebensqualität, des Miteinanders und eines würdevollen Abschiednehmens schenken kann. Im Mittelalter sprach man von der ars moriendi, einer Kunst des würdevollen Sterbens, wie sie insbesondere der christlichen Tradition jahrhundertelang gepflegt und entfaltet wurde. Hospize stehen für eine solche Sterbekultur. Alles dreht sich um die Frage: Wie wollen wir sterben?
Die Waffelteller sind inzwischen leer gegessen; auch die Sahneschale gibt nichts mehr her. Hand in Hand geht die ältere Dame zusammen mit ihrem Mann zu ihrem Zimmer. Nach meinen Erfahrungen und Erlebnissen im Hospiz weiß ich: Der Tod ist kein Sahneschlecken. Beileibe nicht. Auch im Hospiz gibt es nicht nur schöne Stunden. Es wird geweint, es wird gelitten; die Frage nach dem „Warum“ wird gestellt, Gott wird angefleht und angeklagt. Doch es ist gut, dass es Hospize gibt. Sie geben den Menschen einen würdevollen Schutzraum für ihren letzten Lebensabschnitt.
asisi1
in Deutschland “Selbstverantwortlich Leben und Sterben” ist wohl ein Märchen! Schon zu Lebzeiten nur Vorschriften und Zwangssysteme überall. Immer mit dem Slogan, Solidargemeinschaft, Demokratie, Menschenrechte usw. Die aktive Sterbehilfe wird auch nicht kommen, da es hier einigen um riesige Profite geht, auf diese sie nie verzichten werden. So z.B. die Ärzteschaft, Pharm, Krankenhäuser und Alten -und Pflegeheime! Wer etas anderes glaubt sollte einmal in die Kirchen schauen. Hier dreht es sich auch nur um den Mamon!
Lars Schäfers
Hallo asisi1, könntest Du das bitte etwas konkretisieren? Wieso soll man in Deutschland nicht selbstverantwortlich leben können? Wir sind eines der freiheitlichsten Länder weltweit.