Was macht die Identität Europas aus? Ist es ein Abendland der Abschottung und daher für muslimische Flüchtlinge unbequem, wie Pegida, AfD und Co. meinen? Der französische Philosoph Rémi Brague sieht das anders: Europa ist exzentrisch, seine Identität seit jeher für Fremdes offen. Sein Europabild scheint angesichts der Flüchtlingskrise aktueller denn je. Ein Kommentar.
Gerne wird mit Blick auf die Europäische Union bildlich vom Haus Europa gesprochen. Doch aus welchen Baustoffen ist es eigentlich zusammengesetzt? Rémi Brague nimmt zur Frage nach der Identität Europas bereits seit Jahrzehnten eine ungewöhnliche und daher bemerkenswerte Position ein. Europas Programm: Die Aneignung des Fremden. Europas Ziel: Wieder römisch werden.
Rémi Bragues Ansatz ist Inspiration für ein Europa, das sich gegenüber Flüchtlingen nicht durch Abgrenzung definiert, zu dessen Wurzeln seiner Identität es vielmehr von Anfang an gehört, sich dem Fremden gegenüber zu öffnen und sich bereichern zu lassen. Wie denn das? Und womit sollen uns Flüchtlinge – schon gar muslimische – bereichern, wird sich der eine oder andere wohl fragen. Aber beginnen wir zunächst damit, wie Brague sein Europabild geschichtlich herleitet.
Jerusalem, Athen aber vor allem Rom
Das kulturelle Konstrukt Europa entwickelte seine Identität über die Jahrtausende durch die Aneignung des Fremden. Es schöpfte aus Quellen außerhalb seiner selbst. Damit meint Rémi Brague das griechische Denken (ja, es gab Zeiten, da gehörte Griechenland nach Meinung der Griechen nicht zu Europa) und den aus dem Orient kommenden jüdisch-christlichen Glauben. Sie seien von den alten Römern aufgenommen worden, weil diese sich beiderlei Traditionen gegenüber als kulturell minderwertig verstanden hätten, so die These Rémi Bragues. Daher nennt er diese Haltung der Offenheit dem Fremden gegenüber die römische Haltung. Durch diese Haltung sei Europa entstanden. Sie habe zu den verschiedenen Renaissancen in der europäischen Geschichte geführt, bei denen man neu aus alten Quellen schöpfte. Brague sieht in diesen schöpferischen Fremdheitserlebnissen sogar das unterscheidend Europäische im Vergleich zu anderen Kulturräumen, wie etwa der islamischen Welt.
Inwiefern ist das Abendland christlich?
Diese original römisch-europäische Haltung sieht Rémi Brague auch in religiöser Weise verwirklicht, und zwar durch das Christentum. Es hat auch aus fremden Quellen geschöpft, erkennt aber ihre Eigenständigkeit weiterhin an. Das beste Beispiel ist der Umgang des Christentums mit der hebräischen Bibel, dem Alten Testament. Anders als Teile des Islam sieht das Christentum das Alte Testament nie als veraltet oder gar verfälscht an, sondern es bleibt als ständige Ursprungsquelle jüdischen wie christlichen Glaubens anerkannt. Brague schildert diese unterschiedlichen Weisen, Fremdes aufzunehmen, indem er zwischen Aneignung und Verdauung unterscheidet: Bei der Verdauung wird etwas nach und nach einverleibt und verliert seine Eigenständigkeit. Die Aneignung umschließt den fremden Körper, belässt ihm aber seine Andersartigkeit und seinen bleibenden Eigenwert. Das ist der Clue der römischen Haltung, der exzentrischen Identität des Christentums und Europas gleichermaßen.
Rémi Brague machte sich aber auch Gedanken um die Zukunft Europas und seiner Exzentrizität, um die Nebenwirkungen des Christentums, aber auch um die Risiken bei falscher Anwendung desselbigen zur Behandlung der europäischen Identitätskrise. Christianisten schimpft Brague jene, die das Christentum ideologisch für bestimmte politische Ziele verzwecken, das vermeintlich Christliche Abendland als Bollwerk der Abgrenzung gegen alles Fremde, vor allem gegen alles Islamische verteidigen wollen. Für ihn ist aber das Christentum nicht ein inhaltliches Merkmal europäischer Identität neben vielen anderen, sondern vielmehr die Form Europas. Gerade weil es diese römische und christliche Haltung der Offenheit und der Aneignung vermittelt, für das die Kirchen dann im besten Falle Gedächtnisorte sind. So ist es richtig, dass gerade Papst Franziskus und die deutschen Bischöfe so vehement für die Menschenwürde und die Offenheit gegenüber den Flüchtlingen eintreten und auch in diesem Sinne römisch-katholisch sind.
Plädoyer für ein fremdenfreundliches Europa
Wenn Europa in seiner Geschichte so sehr davon profitiert hat, dass es aus fremden Quellen geschöpft hat, dann kann es das heute auch. Doch ein Blick in die Geschichtsbücher lehrt, dass Europas Geschichte bei weitem nicht nur eine der Aneignung, sondern ebenso eine der Vernichtung des Fremden ist. Europa und seine Geschichte sind deshalb nicht nur exzentrisch, sondern auch zutiefst ambivalent. Aus dieser ambivalenten Geschichte kann Europa jedenfalls für die Zukunft lernen, besonders auch im Hinblick auf den Umgang mit der heutigen Flüchtlingsbewegung. Eine Absage an Ausgrenzung und Abschottung um jeden Preis ist vor diesem Hintergrund die einzig vertretbare Option. Der angebliche Patriotismus von AfD und Pegida wird so als Pervertierung der Identität Europas entlarvt, ebenso wie deren Behauptung, das Christliche Abendland zu retten. Europa kann fremdenfreundlich sein, um neue Quellen für seine wandelbare Identität zu erschließen.
Klar ist: nicht alle fremden Quellen sind automatisch gut. Der Islam arabischer Prägung präsentiert sich gegenwärtig etwa vor dem Hintergrund moderner Freiheitsrechte und der Trennung zwischen Politik und Religion eher von seiner schlechten Seite. Vor allem fehlt dem Islam nach Rémi Bragues Ansicht gestern wie heute die entscheidende Haltung der Exzentrizität. Der Islam habe sich nämlich alle fremden Quellen so einverleibt, dass er sich nicht mehr selbstkritisch durch sie hinterfragen lassen konnte und wollte, was auch einer der Gründe für das Erstarken des islamistischen Fundamentalismus sei. Daher muss die Auseinandersetzung mit dem Islam und seinem Beitrag zur Identität Europas differenziert und ehrlich sein. Allein schon, um nicht Terror und Gewalt im Namen des Islam der großen friedlichen Mehrheit der Muslime anzulasten. Differenziertheit bedeutet aber auch, einmal den Blick darauf zu richten, wie Muslime Europa auch im Guten prägen könnten. Was bringt die islamische Religion und Kultur mit, was einen Mehrwert hätte? Danach sollte mehr gefragt werden. Dass etwa das Frauenbild oder die Unterdrückung anderer Religionen, wie in islamisch-arabischen Staaten üblich, nicht dazugehören, ist schließlich hinlänglich bekannt und vielfach gesagt worden. Der Islam hat vielleicht aber religiös und kulturell auch mehr zu bieten und gerade die vielen seit langem in Europa lebenden Muslime, die sich engagieren, sich in die Gesellschaft einbringen, sich für Frieden und interreligiösen Dialog einsetzen, bezeugen, dass der Islam nicht selten auch besser ist als sein Ruf.
Dürfen Flüchtlinge ins Haus Europa einziehen? Eindeutig ja. Im Bewusstsein um die historische Entwicklung der Identität Europas können wir grundsätzlich offen sein für deren kulturelle Mitbringsel. Und das muss nicht nur die Deko sein, die das europäische Hausambiente ein bisschen aufhübscht. Das Eigene zu bewahren ist wichtig. Unsere in Europa geltenden Grundwerte und -freiheiten – nicht nur aber aktuell vor allem – gegenüber fundamentalistischen und gewaltaffinen Strömungen im Islam zu verteidigen, ist unverzichtbar. Ungleich herausfordernder und kreativer ist es aber, zusätzlich eine Offenheit gegenüber Menschen anderen Glaubens und ihres kulturellen Reichtums zu hegen. Nur so funktioniert interkultureller und interreligiöser Dialog. Nur so können schöpferische Fremdheitserlebnisse ermöglicht werden, wie Rémi Brague es nennt. So würde Europa immer mehr das werden, was es faktisch schon ist: Heimat der Verschiedenheit.
Zur Vertiefung:
Rémi Brague: Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2. Auflage 2012. ISBN: 978-3-531-18473-9.
Lars Schäfers: Europa, Flüchtlinge und die Aneignung des Fremden. Eine christlich-sozialethische Analyse auf der Grundlage des Europabildes Rémi Bragues (Forum Religion und Sozialkultur Abt. B: Profile und Projekte Bd. 30). LIT Verlag, Berlin 2016. ISBN: 978-3-643-13471-4
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