Die Debatte über Migration und Flüchtlinge hat gezeigt, dass Europa sich in einer Findungsphase befindet. Während Kompetenzen unklar verteilt sind und eine klare Linie nicht zu erkennen ist, formieren sich nationale Antworten, die auf einer Rückbesinnung auf traditionelle Werte wie Identität, Religion und Kultur basiert. Was diese Kombination von nationaler Mobilisierung und europäischer Untätigkeit für europäische Werte und unsere politische Union bedeutet, zeigen aufkeimender Nationalismus und polarisierte Gesellschaften überall auf dem Kontinent.
Allerorten ist derzeit von der Flüchtlingsproblematik, Integrationsschwierigkeiten oder gar einer europäischen Krise zu hören und zu lesen. In vielen Unterhaltungen mit Freunden oder Familie kommt man ganz automatisch auf dieses Thema zu sprechen. Und während viele Europäer in Schweden, Italien, Griechenland und anderswo alles tun, um die Ankommenden zu unterstützen, bildet sich eine stärker werdende rechte Opposition. Regierungen und nationale Parlamente spielen bisher eine eher unrühmliche Rolle als Trittbrettfahrer am rechten Rand, Schaulustige oder Abwartende mit Pseudolösungen wie dem Türkeiabkommen. Von europäischer Zusammenarbeit keine Spur. Im Gegenteil, die Seenotrettungsmission „Mare nostrum“ der italienischen Marine, die das Leben vieler tausender Menschen gerettet hat, wurde eingestellt und mit einem Programm ersetzt, das nicht ansatzweise die gleichen Resultate vorzuweisen hat.
Wenn man den Blick über populistische Parolen und einseitige bis skandalträchtige Diskussionen über Kosten, Kriminalität, Bildung, Kultur und Religion schweifen lässt, kann die gesamteuropäische Reaktion nur verwundern. Wie können sich 500 Millionen Europäer von einer Million Flüchtlinge in einem Jahr ernsthaft in ihrer Kultur und ihren Werten bedroht fühlen? Wie kommt es, dass einzelne Länder auf nationale Lösungen vertrauen, wenn ein globales Problem gemeinsame Verantwortung erfordert? Es scheint, als hätten wir Europäer den Mut auf halber Strecke verloren und das Vertrauen in die Völkergemeinschaft verschiedenster Sprachen, Kulturen und Religionen, aufgegeben, bevor wir überhaupt richtig angefangen haben.
Ein großer europäischer Energiekonzern wirbt mit der Frage, ob die Deutschen denn verrückt geworden seien. Ich würde gerne fragen: Sind die Europäer denn verrückt geworden? Sie schafften es im letzten Jahrhundert, auf einem von Hass und Krieg zerstörten Kontinent, die Menschlichkeit wiederherzustellen. Durch einen langen Aussöhnungsprozess kreierten sie das wohl ambitionierteste politische Projekt aller Zeiten mit dem Ziel, nationales Denken und Vorbehalte mit gemeinsamer Verantwortlichkeit und Zusammenarbeit zu überwinden. Europäer waren und sind verrückt, was ihren Glauben in ihr Potential angeht; in den letzten Jahren wächst aber auch die Anhängerschaft derer, die europäische Erfolge als Rückschritt in Frage stellen, dabei freilich sehr selektiv argumentierend. Das ist nicht nur gleichermaßen verrückt, sondern auch gefährlich: Es wirft uns ideologisch wie politisch in die Feindseligkeit des 20. Jahrhunderts zurück.
Eine aufkommende Allianz voller Widersprüche bewegt Europa
Im April 2016 stimmte die AfD über ihr Parteiprogramm ab und bezeichnet den Islam als nicht zu Deutschland gehörig – auch Schießbefehle wurden schon offen diskutiert. Die Partei ist Teil einer bemerkenswerten Strömung in fast allen europäischen Staaten, die – obgleich noch weit entfernt von einer Mehrheit – zu einer transnationalen Koalition heranwachsen könnte. UKIP in Großbritannien, der Front National in Frankreich oder die Lega Nord in Italien sind nur einige Beispiele. Das Ironische dabei: Zentrale Forderungen dieser Parteien und Bewegungen sind Rückgewinnung von nationaler Souveränität und die Erhaltung nationalen Kulturguts und europäischer Identität.
Dass viele daran scheitern, zu erklären, was Identität bedeutet und was nationale Kultur ausmacht, erscheint als Nebensache. Dass viele als EU-Gegner in der vielleicht wichtigsten europäischen Institution als Parlamentarier vertreten sind, ist geschenkt. Dass die liberal und konservativ geprägten Wahlprogramme bis auf die Einwanderungspolitik nicht die Interessen ihrer Wählerschaft, die sich vorwiegend aus Kleinunternehmern und Arbeitern rekrutiert, repräsentiert, verwundert. Das zeigt, dass Wahlen nicht objektive, sondern vielmehr emotionale Entscheidungen sind und dass ein dominantes Thema wie die Flüchtlingsdebatte die Kraft hat, andere Teile der Agenda zu überstrahlen.
Auch der Zeitpunkt des Erfolges europaskeptischer Parteien wirkt sonderbar. Er kommt nicht nach Maastricht 1992, den Osterweiterungen 2004 und 2007 oder dem Vertrag von Lissabon als größte Schritte der europäischen Integration. Er kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem Vertrauen in die politische Führung gering ist und sich viele in ihren Privilegien von Zuwanderung bedroht sehen. Dieser Zeitrahmen lässt drei Erklärungen für die widersprüchlichen Wahlentscheidungen zu. Erstens: Menschen setzen sich nicht wirklich mit dem politischen Programm auseinander, sondern geben einem Punkt der Agenda bedingungslosen Vorrang. Zweitens: Das Wahlprogramm ist nur ein Ausdrucksmittel für Nationalismus, Rassismus und Xenophobie, das die hohen Zuwanderungszahlen als Legitimationsgrundlage hat. Oder drittens: Der Wahlzettel dient, wie viele Umfragen nahelegen, als Protestmittel, um einen Kurswechsel bei den etablierten Parteien zu bewirken. Alle drei Erklärungsversuche haben eines gemeinsam: Sie erhöhen durchaus erfolgreich den Druck auf Entscheidungsträger, sich dem scheinbaren Volkswillen anzunähern…
Es drängt sich die Frage auf, welche Erinnerung einst bleibt: Ein Europa, das mehr einem exklusiven Golfclub mit Geburtsrecht gleicht oder ein Europa, das mehr als die Summe seiner Teile ist und alles in seiner Macht stehende tut, um seinen hohen Idealen gerecht zu werden. Das wäre ein Europa, in dem Humanität mehr als nationale Zugehörigkeit und die Gemeinsamkeiten mehr als die Unterschiede zählen. Im Moment folgt unsere Antwort jedoch mehr der Logik, dass jeder sich selbst der Nächste ist und Solidarität von Kultur und Nation abhängt. Bei allem angebrachten Pessimismus gibt es immer eine Alternative; einen Weg zurück, der einen Schritt vorwärts bedeutet oder wie es Finanzminister Wolfgang Schäuble ausdrückt: Die europäische Gemeinschaft machte die größten Fortschritte immer in Krisenzeiten. Und auch Angela Merkel sprach früh von politischen Entscheidungen, die die Haltung einer ganzen Generation widerspiegeln und für Jahrzehnte das Urteil über ein Land bestimmen. Sie hat ihre Verantwortung verstanden und ging als Europäerin voran. Dies in der Hoffnung, dass andere ihrem Beispiel folgen würden, was sie nicht taten. Sie stellte die Menschlichkeit sogar einige Zeit über geltendes Recht, aus dessen Perspektive Deutschlands offene Grenzen im letzten Jahr mindestens anfechtbar sind. Aber hat ein solches Recht nicht mindestens eine Überarbeitung verdient?
Warum nicht ein Perspektivwechsel?
Wenn Deutsche auswandern, dann werden sie zumeist als Menschen respektiert, die gegen den Strom schwimmen, die ihr Glück versuchen und mutig genug sind, ihre Komfortzone und ihre gesicherte Existenz aufzugeben. Oftmals gibt es dafür zum Teil auch finanzielle Beweggründe. Sie deshalb zu diskreditieren oder ihnen vorzuwerfen, in Deutschland zwar Ausbildung und Rentenansprüche zu genießen, nicht aber in Form von Steuern der Gesellschaft etwas zurückzugeben, davon sind die meisten weit entfernt. Viel zu sehr wird ihr Wille zur freien Selbstbestimmung respektiert. Und das geschieht auch völlig zu Recht, nur fällt die Akzeptanz dieser Haltung zunehmend schwer, angesichts der Doppelmoral, die sich in Klassifizierungen von Einwanderern als Wirtschaftsflüchtlinge oder Beschimpfungen als Sozialschmarotzer offenbart. Der fundamentale Unterschied zwischen jenen, die gehen und denen, die kommen: Herkunft, Nationalität und Religion.
Manchmal scheinen auf schwierige Fragen die nötigen Antworten zu fehlen, dennoch dürfen sich Europa und seine Völker nicht spalten lassen. Debatten und eine Vielzahl von Meinungen gehören zum Herzstück der Union. Wer einfache Lösungen für komplizierte Herausforderungen wie Immigration anbietet, erzählt nur die halbe Wahrheit. Lasst uns zurückkehren zur gemeinsamen Antwortsuche, denn mehr als um die Frage, was Europa ist, geht es um die Frage, wer wir als Europäer sind und welche Werte wir vertreten.
Ralf Osterhuber
Ein sehr guter und reflektierter Artikel!